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Stanisław Przybyszewski Totenmesse

 

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Utwór opracowany został w ramach projektu Wolne Lektury przez fundację Nowoczesna Polska.

ISBN 978-83-288-3770-6

Totenmesse Strona tytułowa Spis treści Początek utworu Wesprzyj Wolne Lektury Strona redakcyjna
Totenmesse
Motto: Fismoll Polonaise Op. 44 Friedrich Chopin.
Meinem Freunde 
dem Dichter 
der „Verwandlungen der Venus” 
Richard Dehmel 
gewidmet. 
 

Einen von den Unbekannten, von den im Dunklen und in Vergessenheit lebenden „Certains” führe ich hier vor.

Es ist Einer von denen, die auf dem Wege hinknicken, wie kranke Blumen, — Einer von dem aristokratischen Geschlechte des neuen Geistes, die an übermäßiger Verfeinerung und allzu üppiger Gehirnentwickelung zugrunde gehen.

Wie ich in der Serie „Zur Psychologie des Individuums” durchaus keine Kritiken schreiben wollte, sondern einzig und allein die jüngste Evolutionsphase des menschlichen Gehirnes zu untersuchen beabsichtigt, ihre feinen und feinsten Wurzelfasern zu beschreiben, ihre Zusammensetzung zu analysieren, ein Totalitätsbild dessen zu geben, was noch unklar und verschwommen, nichtsdestoweniger immer energischer in den verschiedensten Äußerungen des modernen Lebens sich kundgibt: so auch in dieser Erzählung.

Es sind zumeist nur feine Spuren, die sich bis jetzt verfolgen lassen, zumeist nur Schattenstreifen, die eine Monomanie, eine Psychose in die Zukunft wirft; aber das sind die geknickten Zweige in der finsteren Wildnis, die zur vorläufigen Orientierung genügen.

Man erschrecke nicht vor den Neurosen, die am Ende doch den Weg bezeichnen, den die fortschreitende Entwicklung des menschlichen Geistes einzuschlagen scheint. In der Medizin hat man sich schon längst abgewöhnt, beispielshalber die Neurasthenie als eine Krankheit zu betrachten; sie scheint vielmehr die neueste und absolut notwendige Evolutionsphase zu sein, in der das Gehirn leistungsfähiger und vermöge der weit größeren Empfindlichkeit viel ausgiebiger wird.

Wenn auch die Neurose vorläufig noch tief den Organismus schädigt, so ist das weiter nicht schlimm. Gegen das Gehirn ist die sonstige körperliche Entwicklung zurückgeblieben, aber es dauert nicht lange: der Körper wird sich anpassen, das wunderbare Selbststeuerungsgesetz wird in Funktion treten, und was heute neurasthenisch heißt, wird sich morgen die höchste Gesundheit nennen.

Grade in den Neurosen und Psychosen liegen die Samenkeime eines neuen, bis jetzt noch nicht klassifizierten Empfindens; sie sind es, in denen das Dunkle sich mit der Morgenröte des Bewusstseins rötet und die unterirdischen Riffe sich über das Niveau der Meeresfläche heben.

Wenn auch manches „cent fois grandeur naturelle” erscheint, so schadet auch das nichts! Was groß ist, kann besser gesehen werden; für den Psychologen kann solche Größe nur willkommen sein.

Einen Unbekannten, Einen „vom Wege” habe ich aufgelesen. Die Menschen, die ich analysiere, brauchen durchaus nicht literarische „Größen” zu sein; aus dem Empfindungsleben eines fein konstruierten Alkoholikers, eines Monomanen, der an Schreckbildpsychose leidet, kann man tiefere und feinere Rückschlüsse auf die Psychologie der Zeit, auf die Natur einer wirklich individuellen Veranlagung gewinnen, als aus den Werken manches großen Literaten.

Zumeist sind es die großartigsten Offenbarungen des Intimsten und Innersten der Menschenseele; zuckende Blitze sind es, die in das große Unbekannte, in das fremde Land des Unterbewussten ein grelles, wenn auch momentanes Licht werfen.

Dass diese „Certains”, diese geistigen Sachsengänger, die überall und nirgends ihre Heimat haben, zugrunde gehen, ist weder befremdlich noch traurig. Sie sind vielleicht der einzige Luxus, den sich die Natur jetzt noch gestattet. Die Seele ist ihr großes Meisterwerk, aber sie schafft und experimentiert noch immer an ihm, noch immer schafft sie neue Versuchsformen, bis sie eines Tages doch vielleicht das große Übergehirn erschafft, nach dem es sie gelüstet.

Der Psychologe hat selbstverständlich das unumschränkte, unbegrenzte Recht, ein solches Experimentierobjekt mit derselben Freiheit zu behandeln, mit derselben Ruhe, mit demselben Jenseits von Gut und Böse, wie es beispielshalber dem Botaniker ohne Widerrede eingeräumt wird, wenn er eine neue Spezies behandelt. Von diesem Rechte habe ich Gebrauch gemacht.

Die Erzählung, in der dies individuelle Leben speziell in Rücksicht auf den Geschlechtswillen untersucht wird, ist in der Ichform geschrieben, weil man in ihr den intimsten Puls am besten erfassen, das leiseste Zittern des neuen, aus den Plazentahüllen des Unbewussten sich sehnenden Geistes am deutlichsten vernehmen kann.

Berlin, Pfingsten 1893.

 

Am Anfang war das Geschlecht. Nichts außer ihm — alles in ihm.

Das Geschlecht war das ziel– und uferlose ἄπειρον des alten Anaximander, als er Mir den Uranfang träumte, der Geist der Bibel, der über den Gewässern schwebte, als noch nichts war außer Mir.

Das Geschlecht ist die Grundsubstanz des Lebens, der Inhalt der Entwicklung, das Wesen der Individualität.

Das Geschlecht ist das ewig Schaffende, das Umgestaltend-Zerstörende.

Es war die Kraft, mit der Ich die Atome aufeinander warf, — die blinde Brunst, die ihnen eingab, sich zu kopulieren, die sie Elemente und Welten schaffen ließ.

Es war die Kraft, die den Äther in namenlose Sehnsucht brachte, seine Teile Welle in Welle zu kuppeln, sie in heiße Vibrationen stürzte und zu Licht werden ließ.

Es war die Kraft, die den elektrischen Strom in sich zurücklaufen, Dampfmoleküle aneinander prallen ließ, — und so ist das Geschlecht Leben, Licht, Bewegung.

Und das Geschlecht wurde maßlos geil. Es schuf sich Fangarme, Trichter, Röhren, Gefäße, um die ganze Welt in sich hineinzuschlurfen; es schuf sich einen Protoplasmaleib, um mit unendlicher Fläche zu genießen; es sog alle Lebensfunktionen in seinen gierigen Schlund hinein, um sich zu befriedigen.

Und es wälzte sich dahin in endloser Evolution und konnte nicht ruhen; und es streckte sich aus in zahllose Formen und konnte sich nicht befriedigen. Es raste nach Glück im Trochiten, es wieherte nach Genuss in der ersten Metazoë, als es das Urwesen in zwei Teile zerriss und sich selbst in zwei Geschlechter spaltete, grausam, brutal, zur gegenseitigen Zerstörung, nur um ein neues, raffinierteres Wesen zu schaffen, das eine kompliziertere Befriedigungsorgie für die ewig hungrigen Dämonen seiner Wollust erfinden könnte.

Und so schuf sich das Geschlecht endlich das Gehirn.

Das war das große Meisterwerk seiner Wollust. Es fing an ihm zu kneten und zu winden an, und drehte an ihm, und stülpte es aus in Sinnesorgane, zerteilte das, was ganz war, in tausend Modifikationen, differenzierte Gemeingefühle zu distinkten Sinneseindrücken, zerschnitt ihre Verbindungen untereinander, dass einer und derselbe Eindruck in verschiedenen Sensationen kostbar würde, dass die einheitliche Welt als fünf– und zehnfache Welt erschiene, und wo früher eine Kraft sich sättigte, wühlten nunmehr tausende.

Das war die Geburt der Seele.

Das Geschlecht liebte die Seele. An seiner hermaphroditischen Brust ließ es die Gehirnseele erstarken; es war für sie die Aorta, die von dem Herzen des Allseins ihr das Lebensblut zuführten es war für sie die Nabelschnur, die sie mit der Allgebärmutter verband; es war der Linsenfocus, durch den die Seele sah, die Skala, in der sie die Welt als Ton, der Umfang, in welchem sie die höchste Lust, den höchsten Schmerz perzipierte.

O — das arme, dumme Geschlecht! und die undankbare Seele!

Das Geschlecht, das sich durch Mich ins Allsein objektivierte, das zum Lichte wurde, das sich die Seele schuf, ging an dieser Seele zugrunde.

Was Mittel sein, was dienen sollte, wurde Selbstzweck, wurde Herrschaft. — Die Sinneseindrücke, die eine neue Zuchtwahl einleiten, neue Gattungen bilden sollten, fingen an, autonom zu werden.

Die distinkten Sinne fingen sich zu mischen an, das Oberste wurde zum Untersten, Ton zur Farbe, Geruchserregung zur Muskelempfindung, die Ordnung wurde zur Anarchie, und ein wütender Kampf zwischen Mutter und Kind begann.

Sie wollte es bemeistern, unterjochen; sie spannte um ihr Kind die Mutterkrallen, sie riss an ihm, band es an sich fest mit tausend Lüsten, tausend geilen Fäden, sie warf es auf das Genital– und Zeugungstier — das Weib; sie überflutete seine Augen mit Blut und stumpfte sein Gehör ab, und dämpfte seine Stimme zum heißen, keuchenden Liebeszischen, und brachte seine Muskeln in Krämpfe, und ließ Wollustschauer wie bebende Schlangen über seinen Körper kriechen, — aber nichts, nichts konnte helfen.

Die kleine Bakterie fraß den Leukozyten auf.

Vergebens ließ er alle seine Lebenssäfte auf den Punkt zusammenströmen, wo die Bakterie saß und um sich fraß, vergebens warf er seinen Kern in seine satanische Braut, sie mit seiner Lebensachse zu zerstören; der Kern zerbirst, reißt auseinander, er zerfällt in seine Granula, und die höchste Lebensfunktion, die Allmutter Alles Seienden, die Erschafferin der Lebewesen, der Vatersame jeglicher Entwicklung, ist tot.

Der Leukozyt stirbt.

Huh! Das war die Brautnacht, die blutschänderische Brautnacht — des Geschlechtes mit der Seele, das Hohe Lied von der siegenden Bakterie.

Und die Seele wurde krank und welk und siech.

Eigenhändig hat sie sich von der Gebärmutter losgerissen, die Aorta unterbunden, die Kraftquelle versiegen lassen.

Sie lebt, — ja, sie lebt noch, weil sie sich sattgefressen hat am Geschlechte; sie zehrt noch an dem Inhalt, den das Geschlecht ihr gab. Sie produziert Formen und Töne, die sonst nur der Fortpflanzung dienten; sie kann sich noch Halluzinationen schaffen, die sonst nur die Sexualsphäre reizten; sie kann sich in eine Ekstase versteifen, die dem Größenwahnsinn des Geschlechtes gleicht, wenn es wähnt ein fremdes Wesen in sich aufgehen lassen zu können. Aber alles, was sie so auf eigene Faust erzeugt, ist nur Luxusfunktion, wie die Kunst nur Luxusfunktion des Geschlechtes ist, und ist steril, was die Kunst nicht ist, weil in ihr der mächtige Pulsstrom des lebendigen Geschlechtes, der fieberheiße Samengolf des Lichtes, des Willens nach persönlicher Unsterblichkeit erzittert.

Und so muss die Seele untergehen; so muss die siegende Bakterie an dem resorbierten Leukozyten sterben.

Aber ich liebe die heilige, große Funktion, in die sich mein Geschlecht verflüchtigte und sublimierte: meine große, sterbende Seele, die mir mein Geschlecht geraubt hat und es auffraß, um daran zu sterben.

Und so muss ich untergehen an meinem zerfallenden, in tausend übergeschlechtliche Sensationen zerbröckelten Geschlecht.

Ich muss untergehen, weil die Lichtquelle in mir ausgetrocknet ist, weil ich das Schlussglied bin in der endlosen Kette der Entwicklungstransformationen meines Geschlechtes, weil die Wogen dieser Geschlechtsevolution nicht über mich hinauskönnen, weil ich der weiße, sturmgepeitschte Schaum bin auf dem Kamme ihrer letzten, brandenden Woge, die sich bald am Strande zerschlagen wird.

Ich muss untergeben, weil meine Seele zu groß wurde und zu schwanger mit meinem Geschlechte, als dass sie einen neuen, leuchtenden, morgenbrünstigen, zukunftsfrohen Tag gebären könnte.

Und so muss ich an der sterilen Schwangerschaft meiner Seele zugrunde gehen.

Aber ich liebe auch mein totes Geschlecht, dessen Reste meine Seele aufzehrt; ich liebe diese letzten Blutstropfen meiner Individualität, in denen sich das Ursein widerspiegelt in seiner ganzen Majestät, in seiner Untiefe und Abgründigkeit, blass und schwach; ich liebe das Geschlecht, das meine Gehörseindrücke mit den wunderbarsten Farben färbt, Geschmackshalluzinationen auf die Sehnerven leitet, epidermale Eindrücke zu visionären Ekstasen werden lässt, — und ich liebe meine Krankheit, meinen Wahnsinn, in dem so viel von doktrinärem, raffiniertem, höhnendem, mit ernster, heiliger Miene höhnendem System sich offenbart.

*

Ich bin ganz ruhig — und sehr, sehr müde.

Nur tief, ganz tief, schmerzt mich etwas. Es ringt etwas nach Gleichgewicht; oder vielleicht, ja, vielleicht ringt es in der letzten Agonie.

Etwas ist verloren gegangen; der mystische Oszillationspunkt, auf den sich alle meine Kräfte beziehen. Er wurde aufgehoben durch tausend andere Kraftzentra, und das Einheitliche zerfiel in tausend Scherben.

Meine Gedanken nehmen etwas Eigenwilliges an, sie gehen und kommen spontan, willkürlich, zügellos.

Manche erscheinen mir wie rötliche Phosphoreszenzen um einen tiefvioletten Heiligenkranz, wie man die Interferenzen der Gaslichtlaternen im Regenwetter durch die trüben Scheiben sieht, ganz weich und flüchtig. Manche kommen

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