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Er hatte einen genialen kaufmännischen Geist.

Du aber bist auch noch ein Taugenichts. In diesen ganzen Jahren hast du nichts gelernt. Wenn es diese famosen Notprüfungen nicht gegeben hätte, wärest du ewig in der Schulbank geblieben oder ein Schuster geworden. Du erinnerst mich ganz an den seligen Vetter Arnold. Er hat Schulden gemacht und ist im Irrenhaus gestorben. Und das hat auch Geld gekostet, sonst hätten wir die Freude gehabt, ihn im Kriminal zu sehen.”

Sie wartete ein paar Minuten. Dann, als Theodor noch immer in der Zeitung las, schrie sie plötzlich: „Wir haben kein Geld mehr, Theodor, hörst du? Wir haben kein Geld mehr, um Taugenichtse vor dem Kriminal zu retten! Du wirst in Eisen sitzen müssen, hörst du?!”

Theodor legte beide Hände an die Ohren und las weiter in der Zeitung. „Leg die Zeitung sofort weg, wenn deine Mutter mit dir spricht”, fuhr Frau Bernheim leiser fort.

Theodor nahm sofort die Hände von den Ohren, hörte aber nicht auf zu lesen.

Manchmal gelang es ihm, so lange zu schweigen, bis sie das Zimmer mit einem lauten Seufzer verließ. Heute aber schien sie nicht weichen zu wollen. Sie machte sich wieder ans Reden. Sie begann, mit einer Stimme, deren Eintönigkeit aufreizte, langsame, gleichmäßig langsame Sätze wie Garn abzuspulen. Bei jedem Satz hatte Theodor das Gefühl, daß er niemals aufhören werde. Als wüßte Frau Bernheim, daß diese Art zu sprechen auf ihren Sohn Eindruck machte, unterstützte sie die Eindringlichkeit ihrer Rede durch gleichmäßige, glättende Bewegungen auf dem Tischtuch. Unaufhörlich und in dem langsamen Tempo, in dem sie sprach, wischten ihre flach ausgestreckten Hände nach links und rechts die Kanten des Tisches. Obwohl Theodor in die Zeitung versenkt war, stahlen sich die weißen, bläulich geäderten Hände der Mutter in sein Blickfeld, und allmählich ergriff ihn vor diesen schwachen Händen der alten Frau eine Angst wie vor Mörderhänden. Er rührte sich nicht. Er hörte auf zu lesen. Die Kolonnen der Zeitung verschwammen vor seinen Blicken. Aber er ließ nichts erkennen, und zum Beweis dafür, daß er nur mit der Lektüre beschäftigt sei, blätterte er langsam die Zeitung um, in demselben Tempo, in dem die Rede seiner Mutter rann, und gebannt von ihrem Rhythmus.

„Wenn ein Bruder aus dem Krieg nach Haus kommt”, sagte Frau Bernheim, „hat ein anständiger Mensch sich zu freuen. Dir aber tut es leid, daß Paul nicht umgekommen ist. Glaubst du nicht, daß eine Mutter alles von ihren Kindern weiß? Gott ist mein Zeuge, unser seliger Vater weiß es auch, er hat es mir nie glauben wollen, und ich habe ihm immer gesagt, was du für ein tückisches Kind bist, boshaft wie eine Spinne und falsch wie eine Katze und dumm wie ein Esel. Eine ganze Naturgeschichte bist du, und die ganze Erziehung war umsonst, man kann, hab’ ich immer zu Felix gesagt, keine Kinder erziehn, wenn sie es nicht von der Geburt mitbekommen haben, die Seele, glaub’ ich, und das ist es auch, du hast keine Seele. Wenn du nicht Angst hättest, würdest du deine alte Mutter schlagen, du möchtest mich schon als Leiche sehn, schrecklich, als Leiche. Aber ich werde nicht ruhig sterben, bis ich nicht weiß, daß du ein anständiger Mensch geworden bist, du kannst es aber nicht werden, was machst du denn die ganzen Tage, du gehst mit deinen lieben Freunden herum, die mir alle nicht gefallen, Paul hat in deinem Alter schon getanzt, er war ein wundervoller Tänzer und hat schon hübsche junge Damen charmiert und hat nicht den ganzen Tag in den Wäldern gelegen und hat nicht herumgeschossen wie du, ich habe Angst vor deinen Raubmessern und Mordpistolen, Anna will nicht mehr dein Zimmer aufräumen, soll ich es vielleicht selber tun ...?”

Eine dunkle, fast bläuliche Röte überzog das Angesicht Theodors. Hastig schmiß er die raschelnde Zeitung auf den Boden. Er erhob sich, warf mit einem Fuß hinter sich den Stuhl um, seine kleinen, rollenden Augen hinter der dunkel geränderten Brille schienen auf dem langen und breiten Tisch nach einem Gegenstand zu suchen, den man nach der Mutter werfen könnte. Da er gar nichts fand, begann er, sinnlos zwanzigmal hintereinander zu schreien:

„Heb sie auf, die Zeitung, heb sie auf, heb sie auf, heb sie auf, Mutter, heb die Zeitung auf, Mutter, Mutter!”

Er war im Nu wieder blaß geworden.

Sein flaches, gelbes, dünnes Angesicht erinnerte an ein ungegorenes, im Ofen eingefallenes Brot. Es war mehr nach innen gewölbt als nach außen. Die Nase schien bis zur Spitze, die zart, blutleer und stumpf hinaufragte, noch zu den Wangen zu gehören. Die Lippen waren dünn und schlossen nicht ganz über den langen Zähnen. Das Kinn streckte sich nach vorne wie bei Menschen, die ihren Kopf zwischen hochgezogenen Schultern zu tragen pflegen. Die Ohren waren gelb, groß und durchsichtig wie aus Pergament und randlos, als hätte ihre Substanz für die Ränder nicht mehr ausgereicht. Über der noch kurzen, knabenhaften Stirn, die aber wie die Stirn eines Alten von vier, fünf Längsfalten durchquert war und zwei dicken, vertikalen Strichen über der Nasenwurzel, erhob sich dünnes, wasserblondes Haar, krampfhaft aufwärts gekämmt. Die wasserhellen Augen hinter den funkelnden Gläsern hatten einen erschreckten Ausdruck. Sie waren wie die Augen eines, der in ein plötzlich ausgebrochenes Feuer blickt. Die Stimme wurde hell und kläglich. Man hätte glauben können, Theodor rufe seine Mutter zu Hilfe, während er ihr zurief, sie möge die Zeitung aufheben. Er begann zu beben. Um seine Zähne nicht klappern zu lassen, biß er sie aufeinander. Und so, die Zunge hart an den Zähnen, versuchte er eine Art von lispelndem, schwerverständlichem Schreien: „Heb die Zeitung auf, heb ssie auf, heb ssie auf!”

Frau Bernheim, die derlei Ausbrüche Theodors nicht ohne eine gewisse Schadenfreude genoß, hob wieder das Lorgnon. Sie schätzte diese Augenblicke. Es waren die einzigen, in denen sie sich wirklich überlegen fühlen konnte — und in denen ihre Logik auf einmal wach wurde, wie angeregt von der vollkommenen Sinnlosigkeit des andern. Obwohl ihr Mund sich nicht verzog, leuchtete in ihren harten Augen schon der Widerschein eines Lächelns, während sie mit ruhiger Stimme den Augenblick ausfüllte, in dem Theodor atemlos und stumm dastand:

„Du hättest es nicht nötig gehabt, die Zeitung auf den Boden zu werfen. Aber sogar, wenn es notwendig gewesen wäre, brauchte deine Mutter sie dir nicht aufzuheben. Bück dich, es wird dir guttun. Es ist ebenso gesund, wie in den Wäldern herumzulaufen. Bück dich, mein Sohn, bück dich!”

Sie sprach diese Sätze mit einer sanften, mütterlichen Stimme, in der die Bosheit eingepackt war wie ein Instrument aus dünnem Stahl in weicher Watte.

Theodor verließ das Zimmer. Frau Bernheim sah noch einen Augenblick auf die Tür, die er zugeschlagen hatte. Sie wartete, bis das Echo des Knalls sich verzog.

Dann bückte sie sich, hob die Zeitung auf und begann zu lesen.

Theodor begab sich in den Korridor.

Er lächelte. Er bemühte sich, leise aufzutreten. Seine Kurzsichtigkeit machte ihn vorsichtig. Er streckte den Kopf. Er drehte ihn nach allen Seiten. Er näherte sich dem breiten Wandschrank gegenüber der Garderobe. Im zweiten Fach links oben stand die Büchse aus Blech, eine Sammelbüchse. Sie war Frau Bernheim einmal von einem Wohltätigkeitsverein gebracht worden und sollte einmal im Monat entleert werden. Aber Frau Bernheim wollte mit eigenen Augen sehn, wohin ihr Geld kam. Quittungen behagten ihr nicht. Sie bewahrte daher in jener Büchse das Kleingeld für die regelmäßigen Bettler, die an einem bestimmten Tag in der Woche kamen.

An der Büchse hing ein winziges Schloß. Theodor hatte schon hie und da versucht, es mit einem der vielen Schlüssel, die er besaß, zu öffnen. Er wußte, daß man Frau Bernheim keinen größeren Kummer zufügen könnte, als wenn man dieses Geld, das ihr schon leid tat, wenn sie es verschenken durfte, auch noch stahl.

Zuerst nahm er die Büchse in sein Zimmer. Er schloß die Tür ab, versuchte einen der kleinen Schlüssel nach dem andern, dachte nach, ergriff ein Messer und begann, vorsichtig den Spalt auseinanderzustemmen. Er hatte Herzklopfen vor Schreck und Freude ... Ein paar Augenblicke ließ er die Büchse ruhig stehn und versuchte, sich die Aufregung seiner Mutter vorzustellen. Sein Mund sagte plötzlich laut: „Kanaille!” Er horchte. Da sich nichts rührte, kehrte er die Büchse um. Aber sie schepperte lauter, als er erwartet hatte. Er lauschte wiederum. Er machte die Türe auf und überzeugte sich, daß niemand da war. Dann begann er, mit unendlicher Sorgfalt eine Münze nach der andern herauszuholen. Viele rollten gehorsam und glatt durch den Spalt. Andere blieben hartnäckig drinnen. Er wurde müde, setzte sich, er hatte die Leidenschaft eines Jägers. Er arbeitete bis tief in die Nacht. Es waren schließlich nur noch wenige scheppernde Münzen in der Büchse. Dann drückte er vorsichtig die Spaltsäume zusammen, schlich hinaus und stellte die Büchse wieder an ihre Stelle.

Er zählte das Geld. Es ergab gerade den Monatsbeitrag für den Verein „Gott und Eisen”, dem er seit zwei Jahren angehörte.

Diesen Verein hatte ein junger Mann namens Lehnhardt begründet. Außer ihm, dem Gründer, der ein Bürgerlicher war, sollten nur Adelige aufgenommen werden. Deren gab es aber nach zwei Monaten nur vier. Deshalb wurden die Statuten dahin verändert, daß nur „Blonde aus arischen Familien” aufgenommen werden durften. Bei näherem Zusehn ergab es sich aber, daß die Haarfarbe des Gründers selbst eher braun als blond war. Immerhin wies man den schwarzhaarigen Sohn des Landesgerichtspräsidenten ab. Dieser Junge beklagte sich bei seinem Vater. Er behauptete, Lehnhardt und Theodor Bernheim hätten ihn einen Juden genannt. Sehr indigniert lud der Landesgerichtspräsident die beiden ein und bewog sie, seinen Sohn aufzunehmen. So blieb schließlich das Statut, das den Juden den Zutritt verbot.

Sie halfen einander mit Büchern, Geld und Waffen aus. Sie schwuren, nachdem sie die Notprüfung abgelegt hatten, immer in Verbindung zu bleiben. Vorläufig meldeten sie sich zur freiwilligen Sanität. Sie hatten „Dienst”, gingen zu den Verwundetentransporten, schleppten Tragbahren, saßen neben den Chauffeuren der Krankenwagen und pfiffen aus schrillen Pfeifen in den Straßen der Stadt, um die anderen Gefährte aufzuhalten. Jeden Tag erwachten sie in der Erwartung, die Mobilisierung ihres Jahrgangs angekündigt zu sehn. Als aber schließlich der Friede kam, schwuren sie der Republik Rache, suchten und fanden Beziehungen zu den geheimen Organisationen und marschierten zweimal wöchentlich zu den Übungen vor die Stadt.

Bei diesen Übungen tat sich Theodor nicht hervor. Er war zu körperlichen Anstrengungen ungeeignet. Die Fahlheit seiner Haut, seine hastigen, kurzen Schritte, seine Sprache, die oft tonlos wurde, die Aufregung, in der er gleichgültige Dinge mitzuteilen pflegte, die Heftigkeit der Bewegungen erweckten den Eindruck, daß man seinen hastigen Puls hörte. In seiner Brust schien das zappelnde, kleine, aufgeregte Herz eines Vogels eingebaut. Er konnte einem mit dem Ausdruck eines Menschen entgegentreten, der soeben eine überraschende Neuigkeit erfahren hat, um dann eine schlichte Mitteilung etwa von dieser Art zu machen:

„Wissen Sie schon? Habe ich es Ihnen nicht schon gesagt? — Ich habe gestern einen Brief von Gustav bekommen.”

Er verlieh den unbedeutendsten Ereignissen eine gefährliche und geheime Wichtigkeit, ja besonders eine geheime. Es war sein Ehrgeiz, irgend etwas früher zu wissen als die andern; aber es auch unter dem Siegel der Verschwiegenheit irgend jemandem erzählen zu können. Auf diese Weise nährte er fortwährend den Glauben an seine Bedeutung. Aber fortwährend zitterte er auch um sie.

Er besaß einen Sinn für die Dinge der Öffentlichkeit und für die großen Worte: Ehre, Freiheit, Nation, Deutschland. Um jeden Preis wollte er irgendeine Wirkung üben. Seine Angst, er könnte krank werden, Angina bekommen, eine Lungenentzündung, eine Rippenfellentzündung, machte ihn ungeduldig. Er konnte kaum ein Buch zu Ende lesen. Aber er brauchte nur zehn Seiten, um über die Maßen begeistert zu sein oder um es „einen Dreck” zu nennen. Denn er liebte die starken Ausdrücke — und das war vielleicht das einzige deutliche Anzeichen seiner Jugend.

Er hielt sich für außergewöhnlich vornehm. Manchmal träumte er davon, eine Geschichte seiner Familie zu schreiben, dem Stammbaum der Bernheims nachzuforschen und den Beweis zu erbringen, daß es eine alte, adlige Rasse war. Die jüdische Abkunft seiner Mutter störte ihn. Und nicht einmal vor seiner Krankheit hatte er soviel Angst wie vor der Möglichkeit, seinen Kameraden einmal über die Familie seiner Mutter Auskunft geben zu müssen. Er beschloß, um jeden Preis zu lügen. Dieser Entschluß war so stark, seine Furcht so groß, daß er allmählich zu der Überzeugung kam, er hätte nichts zu verbergen. Alle Ausreden, die er fand, wurden im Lauf der Zeit für ihn pure Wahrheiten. Die Überzeugung, daß er vornehm sei, äußerte sich in einem Hochmut, den die Kameraden nur deshalb ertrugen, weil er hie und da mit Intimitäten-Austausch und Vertraulichkeiten, ja Schmeicheleien abwechselte. Theodor konnte einem seiner Genossen sagen: „Unter uns, Sie sind ja der einzige unter den Burschen, der weiß, was er will!” Oder: „Das war glänzend, bewundernswert, wirklich eine Tat!”

Es ist anzunehmen, daß Theodor all das glaubte, während er es aussprach. An den gemeinsamen Ausflügen und Übungen nahm er nicht gerne teil. Nicht nur, weil er um seine Gesundheit besorgt war, sondern auch, weil ihn manche groben

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