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allzusehr abnützten, wenn sie in Bewegung waren. Trotzdem ließ sie die toten Uhren, jede in einem Zimmer. Und aus den weißen und silbernen, zwecklos gewordenen Zifferblättern und von den Zeigern, die seit Jahren die gleiche, erstarrte Stunde wiesen, ging ein unheimliches Schweigen aus und strich durch die frostige Leere der Räume.

Paul ging ein paarmal durch das Haus. Er blieb immer wieder vor dem vergrößerten Brustbild seines Vaters stehn. Es hing in seinem Arbeitszimmer über dem Regal, auf dem sich einst zufällige Bücher gehäuft hatten, Korrespondenzen, Zeitungen, und auf dessen oberstem Fach heute nur eine Briefwaage stand, einsam, ganz leise zitternd wie infolge der Kälte, mit einer glänzenden Schale aus Messing. Der Blick des Vaters schien auf der Briefwaage zu ruhen. Sie hatte nichts mehr zu tun, als die Gewichtslosigkeit dieses toten Blicks anzuzeigen. Paul versuchte, hinter dem ziemlich mißlungenen und nur die repräsentative Oberfläche der Physiognomie enthaltenden Porträt das wirkliche Angesicht seines Vaters zu finden. Es gelang ihm nicht mehr. Er erinnerte sich noch an gewisse Bewegungen des Körpers und der Hände, deren blaue Adern und viereckige, sehr saubere und fast weiße Nägel. Aber das Angesicht blieb verschollen, es hatte nie gelebt. Es konnte auch gar nichts nützen, etwa die Gruft zu öffnen. Das Antlitz seines Vaters bestand jetzt aus tausend Löchern, es war Behausung und Nahrung der Würmer geworden.

Er war zum erstenmal über den Tod seines Vaters traurig. Der Vater war die einzige Kraft und Wärme dieser Familie gewesen. Paul faßte den Entschluß, das Haus zu verlassen. Solange seine Mutter lebte, war keine Änderung zu erwarten. Nie würde sie etwa Theodor gehen lassen. Paul selbst wollte wegfahren.

Er ging durch den Garten. Die Rosenstöcke zitterten, in Stroh verpackt, die jungen Weidensträucher am Gitter waren etwas größer geworden, die Zwerge troffen erbärmlich im Regen. Sie hatten allmählich ihre heiteren Farben verloren, und in das Kachelweiß ihrer Märchenbärte mischte sich das moosige Grün der Verwitterung. Sie waren als junge, frische Greislein gekommen, jetzt sahen sie dem Zerfall entgegen und verloren die heitere Würde ihres Alters. Anders als die Menschen waren die Zwerge aus der Fabrik Grützer und Compagnie weißhaarig in der Jugend und farblos im Alter. Über die schmalen Wege hatte man keinen Kies mehr gestreut, es knisterte nicht mehr unter den Füßen, der Schlamm der Erde verschluckte die kleinen Steinchen. Der Garten erinnerte an diesem kalten, regnerischen Herbsttag an ein Bauterrain.

„Was macht denn der Gärtner?” fragte Paul seine Mutter beim Essen. „Ich habe ihn entlassen”, sagte Frau Bernheim. „Das heißt, er ist eingerückt und vor einer Woche zurückgekommen, aber ich habe ihn nicht mehr genommen. Der Portier kann den Garten auch ganz gut versorgen. Wir müssen uns einschränken, Paul! Ich habe den großen Wagen und zwei Pferde verkauft und einen Teil der Stallungen dem Gerstner vermietet.”

„Wer ist das?”

„Der Milchhändler, weiß du nicht? Seit einem Jahr haben wir keine Köchin mehr, nur das Stubenmädchen, und das bißchen Essen mache ich selbst in der Küche.”

„Und geheizt wird auch nicht mehr.”

„Wir haben noch Kohle im Keller, aber es reicht nicht für den ganzen Winter, wenn wir jetzt schon anfangen. Was willst du denn im Januar machen? Und diese Zeiten! Die Bettler rennen uns das Haus ein und sind frech geworden. Eines Tages werden sie uns überfallen. Es gibt ja gar kein Gesetz mehr! Merwig hat mir geraten, Papiere zu kaufen. Was soll ich mit den Papieren, wenn ein großer Krach kommt?”

„Das Geld wird wertlos, Mutter!”

„Wertlos? das Geld?” rief Frau Bernheim. „Was soll noch einen Wert haben?” Es war, als hätte man ihr mitgeteilt, daß heute zum letztenmal die Sonne aufgegangen sei.

„Es ist besser”, fuhr Paul fort, „Aktien zu kaufen.”

„Nein, um Gottes willen, Paul!” sagte die Mutter. „Für eine Frau sind Aktien gar nichts. Eine Frau versteht nichts von der Börse.”

„Laß doch Herrn Merwig!”

„Das kann man nicht, weißt du. Er hat mir zu den Kriegsanleihen geraten. Du wirst morgen ins Büro gehn und mit ihm sprechen. Er gefällt mir nicht mehr seit einigen Monaten. Es geht schlecht bei ihm zu Haus. Dem Sohn wurden die Beine amputiert, er hat keine Stellung mehr. Diese Leute! Die Angestellten sind immer nur ehrlich, solange sie auskommen.”

Sie sagte das mit ihrer alten „königlichen Hoheit”, ein Zustand, in dem sie sich immer noch wohl fühlte. Es kränkte sogar Paul, obwohl auch er niemals viel vom „Personal” hielt. „Aber Mutter — Herr Merwig ist dreißig Jahre in unseren Diensten!”

„Und im einunddreißigsten fängt er an zu stehlen”, sagte Frau Bernheim, und ihre Lippen schlossen sich gleich darauf so fest, daß die Haut über den Kiefern gespannt und das Angesicht einem weißen Stein ähnlich wurde.

Paul ging noch am Abend vor Büroschluß zu Herrn Merwig. Der saß, wie immer, hinter der gläsernen Mattscheibe an seinem hohen Pult. Sein dichter, grauer Schnurrbart sträubte sich, seine strengen, grünen Augen erinnerten an Scherben aus Flaschenglas, seine Stimme war ein kleines Grollen. Er gehörte zu den langjährig Dienenden, die den Unterschied zwischen Anständigkeit und Hartherzigkeit nicht mehr kennen, die also die unbedingte Ehrlichkeit eines Felsens haben.

„Es geht schlimm, Herr Paul”, sagte Merwig — und obwohl es nur eine Klage sein sollte, war es ein Vorwurf. „Seit dem Hinscheiden des seligen Herrn haben wir viele Kunden verloren. Die meisten sind zu den großen Banken gegangen, es geht allen kleineren schlecht. Die andern fangen jetzt allerlei unbekümmerte Geschäfte an, aber das sind nicht Transaktionen im Sinne Ihres dahingeschiedenen Vaters.”

„Sagen Sie ruhig: verstorbenen, Herr Merwig”, unterbrach Paul. Und um den Alten nicht länger sprechen zu hören: „Wir werden jetzt neu anfangen, Herr Merwig. Ich werde es in die Hand nehmen.”

„Es ist Zeit, Herr Paul —”

„Mutter”, sagte Paul am Abend, „ich verbürge mich für Herrn Merwig. Ich habe alles nachgesehen. Er ist nur dumm.”

„Personal ist immer dumm, mein Kind. Hast du vielleicht eine Zeitung mitgebracht? Theodor ist heute nicht nach Hause gekommen. Er bringt sonst immer eine mit.”

„Aber wir sind doch abonniert?”

„Nicht mehr, mein Kind! Ich habe die Abonnements aufgegeben.”

„Warum schickst du nicht um eine Zeitung?”

„Ich dachte, du würdest eine mitbringen und Theodor eine, dann hätten wir schon zwei.”

„Ich gehe eine kaufen.”

Als Paul zurückkam, lag ein Telegramm auf dem Tisch: „Robert kommt Mittwoch. Küsse. Lina.”

Da war noch Robert. Paul hatte ihn fast vergessen. Was sollte jetzt mit diesem Rittmeister geschehen?

„Man wird ihn ins Geschäft nehmen müssen”, meinte Frau Bernheim. „Er versteht aber nichts davon.”

„Macht nichts, er wird sich einarbeiten! Ein Mann wie er!”

Frau Bernheim hatte nicht aufgehört, die Männer nach ihren körperlichen Fähigkeiten zu beurteilen. Sie liebte ihren Schwiegersohn. „Er ist eine repräsentative Erscheinung — auch in Zivil sieht er aus wie ein Reiter.” Paul dachte nicht ohne Bitterkeit an die Kavallerie, bei der er nicht hatte bleiben dürfen. Diese Kavallerie war schuld an seiner Begegnung mit Nikita, an seiner langen Krankheit. Er sagte nichts gegen Robert. Ja, als der Schwager kam, wurde er sogar freundlich. Es war eigentlich ein netter, harmloser Mann. Er trug nur ein schauderhaftes Zivil. Eine viel zu dicke Krawatte und einen viel zu kleinen und dunkelgrünen Hut. Paul beschloß, Robert zuerst zum Schneider zu führen, in einen Hutladen und zu einem guten Friseur.

Den mondän gewordenen Rittmeister setzte er in die Bank. Er war schließlich froh, daß dieser Schwager lebte. Ein zuverlässiger Mann.

Paul nahm den sogenannten „Außendienst” in die Hand. Unter „Außendienst” verstand er Reisen. Schließlich mietete er eine Wohnung in Berlin. Er kam nur einmal in der Woche in die Bank.

VII

Eines Nachmittags, als Paul seine Wohnung verließ, sagte ihm der Portier: „Guten Morgen, Herr Bernheim! Grad’ über Ihnen im zweiten Stock ist ein Zimmer frei geworden.”

Paul war gerade aufgestanden. Es gehörte zu seinen Eigenheiten, daß ihn alles besonders interessierte, was er kurz nach dem Erwachen erfuhr. Er befand sich in einer gewissen Abhängigkeit vom Portier. Obwohl dieser dreimal in der Woche Trinkgelder in fremder Währung von Bernheim empfing, wußte er doch in Paul unaufhörlich das Gefühl einer Schuld wach zu erhalten und die Vorstellung, daß zwischen den Diensten, die er leistete, und der Höhe der Spenden, die er empfing, immer eine bedeutende Differenz bestehen bliebe. Paul wäre es peinlich gewesen, auf den Hinweis des Portiers nicht näher einzugehn. Im übrigen störte es ihn, über seinem Kopf ein leeres Zimmer zu wissen, in das ein noch nicht bekannter, also schrecklicher Lärm einziehen konnte, ein Spielklub zum Beispiel. Schließlich durfte er auf keinen Fall vor dem Portier einem jener Mieter ähnlich werden, denen es an ein paar wertlosen Geldscheinen gelegen war. Paul erkundigte sich also, als ein Mann von Geschäften, nach dem Preis. „Zehn Dollar im Monat!” sagte der Portier, der vor Bernheim niemals eine andere Währung zu erwähnen wagte. „Ich nehme es”, sagte Paul mit dem schnellen Entschluß, mit dem er etwa am Telephon sagte: „Ich nehme, gemacht!”

In der Tat hatte er ein Zimmer nötig. Je weiter er den Kurfürstendamm entlangging, desto notwendiger wurde das Zimmer. Es war ein nebliger Februartag, an den Straßenecken bestanden die feldgrauen Bettler und Krüppel aus Nebel. Man sah die Passanten erst auf drei Meter Entfernung, die frühen Laternen brannten wie erlöschende Sterne. Paul wußte, daß er sehr traurig gewesen wäre, wenn er in dieser Stunde nicht das Zimmer gemietet hätte. So besaß er für heute eine kleine Sensation. Es war den ganzen Tag keine Post gekommen — An den Tagen, an denen sein Briefkasten leer war, fühlte er sich doppelt verlassen. An solchen Tagen war er ein Pessimist und abergläubisch. Er stellte sich vor, daß irgendeine feindliche Macht entweder die Menschen, mit denen er korrespondierte, am Schreiben verhinderte oder, was sie geschrieben hatten, auf dem Grunde der Postkästen aufhielt, in den Briefsäcken der Postwagen zerfallen ließ. Er selbst schrieb nicht gerne gewöhnliche Briefe. Er telegraphierte oder gab seine Briefe eingeschrieben auf. Gestern und vorgestern hat also kein Mensch an mich gedacht, sagte sich Paul, wenn sein Briefkasten leer war. Ich habe viele Freunde und bin ganz allein. Nicht einmal Marga schreibt mir.

An solchen Tagen bereitete er sich mit langsamer Vorfreude auf die Geschäftskorrespondenz vor, die ihn im Büro im Innern der Stadt erwartete. (Er sagte nicht Stadtinneres, sondern „City”.) Sonst interessierte ihn diese Korrespondenz überhaupt nicht. Ein Geschäftsfreund hatte ihm ein Büro abgetreten, in dem Bernheims Sekretär und ein Schreibfräulein saßen, Anrufe entgegennahmen und notierten, kleine Abschlüsse selbständig „tätigten” und bei größeren in Pauls Wohnung anriefen. Jeden Nachmittag, eine Stunde, nachdem er das Bett verlassen hatte, begab sich Paul in dieses Büro. Hatte er Briefe zu Hause bekommen, so fuhr er im Auto. An den postlosen Tagen ging er zu Fuß, um seine Verlassenheit bis zum Grunde auszukosten. Dann aber auch, um an einem ganz bestimmten Punkt, an dem sich der Schmerz der Einsamkeit in eine linde Wehmut verwandelte, die Hoffnung auf eine möglichst überraschende Geschäftskorrespondenz lange auszudehnen. Unter Umständen konnte sich auch ein Privatbrief unter die geschäftlichen gemischt haben.

Er beschloß nun, das Büro in der „City” aufzugeben und es im zweiten Stock über seiner Wohnung einzurichten. Es gab Stunden am Vorabend, die er allein in seinem Zimmer verbringen mußte, in denen kein Freund sich meldete, kein Brief kam, kein Telephongespräch. Dann fühlte er die Einsamkeit wie ein Gefängnis. Die Frauen, zu denen er Beziehungen hatte, beschäftigten ihn nur, solange er sich in ihrer Nähe aufhielt. Sein ständiges Verhältnis Marga lebte in Wien, sie kam einmal im Monat zu ihm. Sie war eine junge Schauspielerin, die ihr Theater auf keinen Fall verlassen wollte. An einer Berliner Bühne hatte er sie nicht unterbringen können. Aber selbst wenn er Marga bei sich gehabt hätte, seine Verlassenheit wäre nicht kleiner gewesen. Sie brauchte ihn nur, weil es die Sitte erforderte. Er liebte sie nicht, aber auch ihm befahl die Tradition, eine Freundin zu erhalten. Es erhöhte den gesellschaftlichen und sogar den geschäftlichen Kredit.

Es war schwer, allein zu sein. Alle peinlichen Gedanken kamen aus der Einsamkeit, wie Züge aus der Ferne kommen. Wenn er allein war, erinnerte er sich an Nikita, an das Spital, an das verlorene England, an das unterbrochene Oxford. Nun war er nahe an die Dreißig. Das dreißigste Lebensjahr erschien ihm wie die letzte Etappe auf dem Weg zur Größe. Wenn man bis dahin nicht ein bedeutender Mann war, so wurde man es nie mehr. Dann verlor auch das Leben seinen Sinn. Denn ein mittelmäßiges Leben zu führen hielt Bernheim für einen Verrat an sich selbst, an seinen Talenten, an seiner genialen Jünglingszeit, an seinem toten Vater. Er konnte sich nur Größe oder Tod vorstellen, wenn er an seine Zukunft dachte. Und je strahlender er sich die Größe ausmalte, desto mehr Angst hatte er vor dem Tod. Die Leere des Todes umgab und erfüllte ihn bereits in manchen Stunden.

Um ihr zu entfliehen, umgab er sich mit Gesellschaft. Es waren Menschen, die von ihm lebten, Schatten, aufgestiegen aus den Nebeln

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