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übereingekommen”, erzählte sie Paul, „das Abonnement für die Zeitung übernimmt die Frau Oberrechnungsrat. Genau heut vor einem Monat hat es in ihr Zimmer geregnet, das Dach war beschädigt. Sie hat behauptet, ich müsse es richten. Aber ich habe ihr klargemacht, daß die Wirtin nicht verantwortlich sein kann für Löcher im Dach. Sie hat es auch eingesehn, das Dach wurde verlötet, aber seit damals regnet es nicht mehr, und ich weiß nicht, ob der Klempner uns nicht beschwindelt hat. Möchtest du nachsehn?”

Paul stieg aufs Dach, um nachzusehn.

Von der Höhe übersah er den Garten, der jetzt, da der Frühling begann, noch trauriger war als im Herbst — wie ein ärmlich Gekleideter trauriger ist in der Sonne als im Nebel. Paul sah den leeren Schuppen, in dem keine Wagen mehr standen, die Ställe, in denen die fremden Pferde wieherten, und den alten Hund, der jetzt schmutzig vor seinem Häuschen lag, träge, als wüßte auch er, daß es nichts mehr zu bewachen galt außer dem Koffer mit dem ungültigen Papiergeld der Frau Bernheim.

Eines Abends legte die Mutter die Zeitung weg — seitdem die Mieterin das Abonnement bezahlte, fühlte sich Frau Bernheim frei von der Verpflichtung, alle Inserate zu lesen — und sagte unvermittelt:

„Weißt du, Paul, ich lese jetzt in der Zeitung so viele Heiratsanzeigen!”

„Ja”, sagte Paul gleichgültig, „eine Folge des Krieges.”

„Die jungen Leute sind gescheit”, fuhr Frau Bernheim fort, „sie heiraten schnell, das ist gesund und garantiert ein langes Leben.”

Sie schwieg und erwartete eine Äußerung von ihrem Sohn.

Aber Paul schien nachzudenken, er hörte die Uhr ticken, die einzige, die noch in diesem Hause ging, und den zarten Wind, der in dem vorjährigen, liegengebliebenen Laub des Gartens raschelte. Frau Bernheim ergriff das Lorgnon, und erst das Geräusch, mit dem es aufklappte, rief Paul wieder in diese Stunde.

Frau Bernheim sah ein paar Minuten lang durch das Lorgnon auf Paul. Er wußte, daß es die Vorbereitung seiner Mutter zu einem „ernsten Thema” war, und wartete.

„Nun bist du dreißig Jahre alt, Paul”, sagte Frau Bernheim.

Die Erwähnung seiner dreißig Jahre berührte ihn schmerzlich, als wären sie ein körperliches Gebrechen. Da waren nun freilich diese dreißig Jahre, und er hatte es zu nichts gebracht. Es war, als wenn sich die drei Jahrzehnte, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag, neben ihm aufgehäuft hätten, ein Berg aus Zeit, und er selbst wäre tatenlos, klein und ohne Alter danebengestanden.

„Hast du nie ans Heiraten gedacht?” fragte die Mutter, etwas strenge, das Lorgnon immer noch vor den Augen.

„Wo gibt es Frauen?” sagte Paul.

„Es gibt genug Frauen, mein Kind — du sollst dich umsehn!”

Sie nahm das Lorgnon wieder ab und ließ es an die Hüfte gleiten, wie man ein Schwert in die Scheide steckt.

Es war keine Rede mehr vom Heiraten. Immerhin, im Zug nach Berlin dachte Paul an den Vorschlag seiner Mutter. Ja, es war vielleicht Zeit zu heiraten. Ja, es war ziemlich einfach zu heiraten. Vorsicht und schneller Entschluß waren die wichtigsten Vorbedingungen. Eine Heirat war ein Weg zur Größe. Er wollte anfangen, Gesellschaften aufzusuchen.

Er kannte aus seiner früheren Zeit, aus seiner Gönnerzeit, einen jungen Mann aus Temesvar, der sich für einen Budapester ausgab und Sandor Tekely hieß. Als Journalist und Zeichner war er nach Berlin gekommen. Er hätte ebensogut als Herrenreiter, Schwarzkünstler und politischer Agent kommen können: Das Schicksal, das mit einer gewissen Holdseligkeit über manchen jungen Leuten aus Temesvar wacht, führte Sandor Tekely zuerst in die Spielklubs, dann in die Kabaretts, hierauf in die Theater, nach zwei Jahren zum Film und schließlich wieder zurück zur Zeitung. Einmal hatte er als Mitglied der Presse — und Propaganda-Abteilung die Rote Armee des ungarischen Diktators Bela Kun auf ihrem Feldzug gegen die Rumänen begleitet. Er hatte diese Zeit und seine Tätigkeit längst vergessen. Er wäre imstande gewesen, einen Mord zu vergessen, jahrelanges Gefängnis und einen Typhus. Dieser seiner Fähigkeit entsprach seine Begabung, die Gegenwart auszunützen. Es war, als hinge die Hurtigkeit, mit der er jede günstige Gelegenheit aus jeder Situation herauszuklauben verstand, unmittelbar mit der Vergeßlichkeit zusammen, ähnlich wie die Eigenschaft einer gesunden Konstitution, sich an winterlichen Frösten wie an sommerlichen Hitzen zu stärken, mit ihrer andern Eigenschaft zusammenhängt, Krankheiten schnell und gründlich zu überstehen. Es wäre unrecht gewesen, Sandor Tekely etwa für „charakterlos” zu halten. Er war vergeßlich — genauso, wie er aufmerksam war. Und wie ein Schmetterling Süßigkeit aus jeder Blume saugt, so konnte Sandor Tekely aus jeder Gesellschaft, in die er geriet, eine Beziehung, eine Verbindung und eine Freundschaft mitnehmen. Er war einer der sichersten Beweise für den Wandel der Gesellschaften, die Unsicherheit der alten Klassen und ihrer neuen Angehörigen, der Schwankungen gesellschaftlicher Werte und die unbegrenzte Ratlosigkeit der neuen Häuser, in denen die Architektur moderne „Empfangsräume” geschaffen hatte. Sorglos und nur auf Beziehungen bedacht, flatterte Tekely von einer Hausfrau zur andern, ohne Unterschiede zu merken, besuchte er die Maskenbälle, die in jenem Jahr den Karneval noch lange überdauerten, stets in der gleichen Tracht eines Rokoko-Prinzen, sonstige Abende im Smoking, mit einer Weste, die ihre eigenen Rockklappen trug, immer mit einem Lächeln, das aus vollen, dunkelroten Lippen und tadellosen, blanken Zähnen gebildet wurde, immer mit der Bereitschaft, jedem zum erstenmal eine Freundlichkeit zu sagen und zum zweitenmal eine Vertraulichkeit.

Nicht mit Unrecht dachte Paul Bernheim jetzt an Sandor Tekely. Bernheim wußte von Tekelys Gewohnheit: zweimal in der Woche in einem ungarischen Restaurant zu essen, um den Zusammenhang mit dem mütterlichen Boden nicht zu verlieren. Er traf ihn einmal. Tekely war erfreut. Er liebte es, wenn ihn gutgekleidete Männer in diesem Restaurant aufsuchten, in dem er einmal lange auf Kredit gegessen hatte. In diesem Restaurant übertrieb er seine gewohnte Vertraulichkeit. Er vermengte sie mit einer herzlichen Freude, der zu entnehmen sein sollte, daß der Gast eine Persönlichkeit von außergewöhnlicher Bedeutung sei.

Wo Paul Bernheim („lieber, lieber Freund”) so lange verborgen gewesen sei?

Und er selbst?

Oh, kein Geheimnis! Seine Beschäftigungen zahlreich. Erstens war er an jenem Inseratenunternehmen beteiligt, das die neue Reklameform der Poststempel am Kopf der Zeitungen verbreitet hatte. Zweitens half er in der Propaganda-Abteilung der großen amerikanischen Filmgesellschaft, die seit einem halben Jahr in Deutschland arbeitete. Drittens machte er mit einem Freund zusammen eine Weltkorrespondenz in allen europäischen Sprachen für Tagesneuigkeiten und feuilletonistische Mitteilungen. Viertens besorgte er die Übersetzungsrechte fremder Autoren für Deutschland und deutscher Autoren für das Ausland. Schließlich ließ er sich aktuelle Lustspielstoffe einfallen und verkaufte sie an bekannte Dramatiker. Es winkte außerdem etwas Neues, nämlich die Gründung, die ein Mann namens Nikolai Brandeis plane.

„Wer? — der Russe Brandeis?” wiederholte Paul.

„Sie kennen ihn?” rief Tekely und ergriff Bernheims Arm, „Sie kennen Brandeis persönlich?”

„Ja”, sagte Paul, „warum ist das so merkwürdig?”

„Oh, nicht merkwürdig, aber eine glänzende Beziehung!”

Und Tekelys vorgetäuschte Wertschätzung verwandelte sich in eine echte Bewunderung. „Brandeis, Brandeis! —” wiederholte er in dem Ton, in dem ein Läufer in antiken Zeiten einen Sieg ausgerufen haben mochte. „Wissen Sie nicht? Brandeis ist der große Mann von morgen. Einer der Männer, die aus dem Osten kommen und hier ihr Glück machen. Seit einem halben Jahr gehören ihm hier zwölf Häuserblocks am Kurfürstendamm. Er fängt an, Stoffläden und Gemischtwarenhandlungen in der ganzen Provinz anzulegen. Man sagt, daß er das Land mit Warenhäusern zu überschwemmen gedenkt. In jeder kleinen Stadt ein Warenhaus. Sein Motto: Für den Mittelstand. Er verbreitet Aufrufe zur Rettung des Mittelstandes, hat eine Bank gegründet und soll eine außergewöhnlich reiche und schöne Frau aus Serbien mitgebracht haben. Sie könnte seine Tochter sein. Man sieht sie beide bei jeder Premiere. Sie soll eine russische Fürstin sein, die nach Belgrad geflüchtet war, mit einem sagenhaften Schmuck. Sie war schon bereit, ihn zu verkaufen, da traf sie Brandeis. Wie lang haben Sie ihn nicht gesehn? Rufen Sie ihn doch an, wenn Sie ihn kennen? Oder warten Sie: Vielleicht ist er morgen bei ,Schwarz und Weiß’.”

„Was ist ,Schwarz und Weiß’?”

„Der Maskenball des Neuen Hockeyklubs, wissen Sie nicht? Wollen Sie eine Einladung? Hier! Haben Sie eine Feder? Ich will gleich Ihren Namen ausfüllen. Doktor Paul Bernheim, nicht?”

Es war ein frischer, heiterer Abend, der Himmel hell wie am frühen Morgen und der Mond so nahe und irdisch, daß er wie ein Bruder der großen, silbernen Bogenlampen aussah. Paul segnete diesen Tekely. „So eine Begegnung sollte man ein paarmal in der Woche machen. Dieser Junge weiß alles und beschert Glück. Alles hängt von diesem ,Schwarz und Weiß’ ab. Ich werde dort etwas Entscheidendes erleben oder nirgends mehr. Auf zu ,Schwarz und Weiß’. Hockey ist ein sympathischer Sport!”

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XIII

Der große Saal des Kasinos, in dem das Fest stattfand, war in ein Labyrinth verwandelt. Unerwartete Winkel zwischen vorgetäuschten Mauern, Logen und Verstecke hatten den Zweck, die Gäste, die sich geheimen Genüssen hingeben wollten, nicht nur unsichtbar zu machen, sondern auch in der ständigen Furcht vor Überraschungen zu erhalten. Denn es gab keine Ecke, die nicht tückisch genug war, abgeschlossen zu scheinen und dennoch einen verborgenen Zugang zu besitzen. Es war die Innenarchitektur eines Sadisten.

Paul Bernheim stellte sich endlich in der Nähe des Eingangs auf, um die Ankommenden sehen zu können. Aber Brandeis kam nicht. „Ich habe es mir denken können”, sagte Paul. „Als ob dieser Sandor Tekely mir nicht schon oft falsche Sachen erzählt hätte.” Traurig war er und bitter. In dieser Gesellschaft des Hockeyklubs kannte einer den andern auch in der Verkleidung. Ja, es war anzunehmen, daß jeder vom andern vorher gewußt hatte, in welchem Kostüm sein Bekannter kommen würde. Alle Anwesenden hatten so sehr das Gefühl, zu einer Familie zu gehören, daß sie die paar verlorenen Fremden, die wahrscheinlich alle nur der Tekely mitgebracht hatte, mit dem erstaunten, etwas erzürnten Blick ansahen, den man für Eindringlinge übrig hat. Auf zwei einander gegenüberliegenden Estraden lebten sich die Musiker aus. Sie ließen keine Pause aufkommen. Wenn eine schüchterne Stille aufzublühen begann, nachdem eine Kapelle einen Tango beendet hatte, fiel die andere Kapelle mit einem Jazz über die lautlose Minute her und zermalmte sie zwischen Trommel und Saxophon. Unermüdlich tanzten die Paare. Paul Bernheim sah keine Möglichkeit, in dieser geschlossenen, wenn auch sehr verkleideten Gesellschaft einem entscheidenden Schicksal zu begegnen, wie er es heute noch den ganzen Abend gehofft hatte. Er trug einen dunklen Domino, ein Kostüm, das, wie ihm schien, der Begegnung mit einem entscheidenden Schicksal entsprach. Aber es meldete sich kein Schicksal.

Sagen wir lieber: Es meldete sich scheinbar kein Schicksal. Denn ein Mädchen in einer Art Haremskostüm, mit goldenen Schuppenbrüsten und einem türkisblauen, breiten Band um die Stirn, in wehenden, weißen Pumphosen und blauen Sandalen mit goldenen Spangen zog Paul Bernheim in einen der Winkel, mit sanfter Gewalt, wie sie Frauen anwenden, die ein ehrsames Leben führen, und die den Eindruck erweckt, daß sie nichts anderes wollten als die Bewegung eines Freudenmädchens aus einer Hafenstadt nachahmen. Es war schon gegen zwei Uhr morgens, und Bernheim hatte nichts mehr Entscheidendes zu erwarten. Also ergab er sich dem wortkargen Genuß, den Körper des Mädchens an sich zu ziehen. Die Frau verlangte zu trinken, und er erhob sich, um ihr ein Glas Champagner zu bringen — denn man verteilte Champagner in Gläsern am Büfett. Er fühlte ihre Bemühungen, die leichte Erregung, in der sie sich bereits befand, noch zu verstärken. Wozu war ein Kostümfest gut? Ich langweile mich, dachte sie. Alle kennen mich und wagen nicht einmal einen Scherz. Dieser junge Mann ist fremd. Er ist vielleicht nicht klüger als die anderen, aber er hat den Vorzug, mich nicht zu kennen.

Sie sagte ihm also kurz entschlossen, daß sie sich langweile. Sie klagte über die scheuen Männer, die sie alle beim Rufnamen und sogar beim Spitznamen kannte. Sie entfachte Pauls Ehrgeiz und erinnerte ihn an die glückliche Zeit seiner ersten Jugend, in der er sorglos und mit der Aussicht auf Oxford die Mädchen seiner Heimat gerade noch bis zu dem Grad verführt hatte, der ihre Heiratsfähigkeit nicht verminderte. Es war immerhin noch eine verhältnismäßig keusche Zeit gewesen, dachte er. Damals hätte mich kein Mädchen so aufrichtig behandelt, auch nicht auf Kostümbällen. Die stete Neigung, die er von seiner Mutter ererbt haben mochte, jeden Fremden ohne Unterschied des Geschlechts sofort in eine der sozialen Schichten einzureihen, ließ ihn aus dem Betragen des Mädchens den Schluß ziehen, daß es nicht zu jener Gesellschaft gehörte, die er die „allerbeste” zu nennen pflegte. Und nach der Art der Männer, welche die Widerstandsfähigkeit einer Frau nach den Einnahmen ihres Vaters berechnen, entschloß er sich, so weit, das heißt: so nah zu gehn, wie es die Abgeschiedenheit und die Dunkelheit des Ortes erlaubten.

Er erfuhr einladende Zurückweisungen. Der Schuppenpanzer lockerte sich. Seine Versuche waren bereits so kühn geworden, daß er in das Stadium geriet, in dem er das Gesicht, also die Individualität der Frau vergaß und nur noch die Nähe

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