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Er wandte sich nach Norden: Da atmete finster der Wald. Rechts dehnten sich viele Werst weit die Sümpfe mit den vereinzelten, silbernen Weiden. Links lagen die Felder unter opalenen Schleiern. Manchmal glaubte Mendel, einen menschlichen Laut aus unbestimmbarer Richtung zu vernehmen. Er hörte bekannte Leute reden, und es war ihm auch, als ob er sie verstünde. Dann erinnerte er sich, daß er diese Reden schon längst gehört hatte. Er begriff, daß er sie jetzt nur noch einmal vernahm, lediglich ihr Echo, das so lange in seinem Gedächtnis gewartet hatte.

Auf einmal rauschte es links im Getreide, obwohl sich kein Wind erhoben hatte. Es rauschte immer näher, jetzt konnte Mendel auch sehen, wie sich die mannshohen Ähren bewegten, zwischen ihnen mußte ein Mensch schleichen, wenn nicht ein riesiges Tier, ein Ungetüm. Davonlaufen wäre wohl richtig gewesen, aber Mendel wartete und bereitete sich auf den Tod vor. Ein Bauer oder ein Soldat würde jetzt aus dem Korn treten, Mendel des Diebstahls bezichtigen und auf der Stelle erschlagen, mit einem Stein vielleicht. Es könnte auch ein Landstreicher sein, ein Mörder, ein Verbrecher, der nicht belauscht und beobachtet sein wollte. „Heiliger Gott!”, flüsterte Mendel. Da hörte er Stimmen. Es waren zwei, die durch das Getreide gingen, und daß es nicht einer war, beruhigte den Juden, obwohl er sich gleichzeitig sagte, daß es eben zwei Mörder sein dürften. Nein, es waren keine Mörder, es war ein Liebespaar. Eine Mädchenstimme sprach, ein Mann lachte. Auch Liebespaare konnten gefährlich werden, es gab manches Beispiel dafür, daß ein Mann rasend wurde, wenn er einen Zeugen seiner Liebe ergriff. Bald mußten die beiden aus dem Felde treten. Mendel Singer überwand seinen furchtsamen Ekel vor dem Gewürm der Erde und legte sich sachte hin, den Blick auf das Getreide gerichtet. Da teilten sich die Ähren, der Mann trat zuerst hervor, ein Mann in Uniform, ein Soldat mit dunkelblauer Mütze, gestiefelt und gespornt, das Metall blinkte und klingelte leise. Hinter ihm leuchtete ein gelber Schal auf, ein gelber Schal, ein gelber Schal. Eine Stimme erklang, die Stimme des Mädchens. Der Soldat wandte sich um, legte seinen Arm um ihre Schultern, jetzt öffnete sich der Schal, der Soldat ging hinter dem Mädchen, die Hände hielt er an ihrer Brust, eingebettet in den Soldaten ging das Mädchen.

Mendel schloß die Augen und ließ das Unglück im Finstern Vorbeigehen. Hätte er nicht Angst gehabt, sich zu verraten, er hätte sich auch gern die Ohren verstopft, um nicht hören zu müssen. So aber mußte er hören: schreckliche Worte, silbernes Klirren der Sporen, leises, wahnsinniges Kichern und ein tiefes Lachen des Mannes. Sehnsüchtig erwartete er jetzt das Kläffen der Hunde. Wenn sie nur laut heulen wollten, sehr laut heulen sollten sie! Mörder hatten aus dem Getreide zu treten, um ihn zu erschlagen. Die Stimmen entfernten sich. Stille war es. Fort war alles. Nichts war gewesen.

Mendel Singer stand eilends auf, sah sich um in der Runde, hob mit beiden Händen die Schöße seines langen Rockes und lief in die Richtung des Städtchens. Die Fensterläden waren geschlossen, aber manche Frauen saßen noch vor den Türen und plauderten und schnarrten. Er verlangsamte seinen Lauf, um nicht aufzufallen, er machte nur große, eilige Schritte, die Rockschöße immer noch in den Händen. Vor seinem Hause stand er. Er klopfte ans Fenster. Deborah öffnete es: „Wo ist Mirjam?”, fragte Mendel. „Sie geht noch spazieren”, sagte Deborah, „sie ist ja nicht zu halten! Tag und Nacht geht sie spazieren. Eine halbe Stunde kaum ist sie im Haus. Gott hat mich gestraft mit diesen Kindern, hat man je in der Welt schon — ” „Sei still”, unterbrach sie Mendel, „wenn Mirjam nach Hause kommt, sag ihr, ich habe nach ihr gefragt. Ich komme heute nicht nach Haus, sondern erst morgen früh. Heute ist der Todestag meines Großvaters Zallel, ich gehe beten.” Und er entfernte sich, ohne eine Antwort seiner Frau abzuwarten.

Es konnten kaum drei Stunden verflossen sein, seitdem er das Bethaus verlassen hatte. Nun, da er es wieder betrat, war ihm, als kehre er nach vielen Wochen dahin zurück, und er strich mit einer zärtlichen Hand über den Deckel seines alten Gebetpultes und feierte mit ihm ein Wiedersehn. Er klappte es auf und langte nach seinem alten, schwarzen und schweren Buch, das in seinen Händen heimisch war und das er unter tausend gleichartigen Büchern ohne Zögern erkannt hätte. So vertraut war ihm die lederne Glätte des Einbands mit den erhabenen, runden Inselchen aus Stearin, den verkrusteten Überresten unzähliger längst verbrannter Kerzen, und die unteren Ecken der Seiten, porös, gelblich, fett, dreimal gewellt durch das jahrzehntelange Umblättern mit angefeuchteten Fingern. Jedes Gebet, dessen er im Augenblick bedurfte, konnte er im Nu aufschlagen. Eingegraben war es in sein Gedächtnis mit den kleinsten Zügen der Physiognomie, die es in diesem Gebetbuch trug, der Zahl seiner Zeilen, der Art und Größe des Drucks und der genauen Farbtönung der Seiten.

Es dämmerte im Bethaus, das gelbliche Licht der Kerzen an der östlichen Wand neben dem Schrank der Thorarollen vertrieb das Dunkel nicht, sondern schien sich eher in diesem zu bergen. Man sah den Himmel und einige Sterne durch die Fenster und erkannte alle Gegenstände im Raum, die Pulte, den Tisch, die Bänke, die Papierschnitzel auf dem Boden, die Armleuchter an der Wand, ein paar golden befranste Deckchen. Mendel Singer entzündete zwei Kerzen, klebte sie fest am nackten Holz des Pultes, schloß die Augen und begann zu beten. Mit geschlossenen Augen erkannte er, wo eine Seite zu Ende war, mechanisch blätterte er die neue auf. Allmählich glitt sein Oberkörper in das altgewohnte, regelmäßige Schwanken, der ganze Körper betete mit, die Füße scharrten die Dielen, die Hände schlossen sich zu Fäusten und schlugen wie Hämmer auf das Pult, an die Brust, auf das Buch und in die Luft. Auf der Ofenbank schlief ein obdachloser Jude. Seine Atemzüge begleiteten und unterstützten Mendel Singers monotonen Gesang, der wie ein heißer Gesang in der gelben Wüste war, verloren und vertraut mit dem Tode. Die eigene Stimme und der Atem des Schlafenden betäubten Mendel, vertrieben jeden Gedanken aus seinem Herzen, nichts mehr war er als ein Beter, die Worte gingen durch ihn den Weg zum Himmel, ein hohles Gefäß war er, ein Trichter. So betete er dem Morgen entgegen.

Der Tag hauchte an die Fenster. Da wurden die Lichter kümmerlich und matt, hinter den niedrigen Hütten sah man schon die Sonne emporkommen, mit roten Flammen erfüllte sie die zwei östlichen Fenster des Hauses. Mendel zerdrückte die Kerzen, verbarg das Buch, öffnete die Augen und wandte sich zum Gehen. Er trat ins Freie. Es roch nach Sommer, trocknenden Sümpfen und erwachtem Grün. Die Fensterläden waren noch geschlossen. Die Menschen schliefen.

Mendel pochte dreimal mit der Hand an seine Tür. Er war kräftig und frisch, als hätte er traumlos und lange geschlafen. Er wußte genau, was zu tun war. Deborah öffnete. „Mach mir einen Tee”, sagte Mendel, „dann will ich dir was sagen. Ist Mirjam zu Haus?” „Natürlich”, erwiderte Deborah, „wo sollte sie denn sein? Glaubst du, sie ist schon in Amerika?”

Der Samowar summte, Deborah hauchte in ein Trinkglas und putzte es blank. Dann tranken Mendel und Deborah gleichmäßig mit gespitzten, schlürfenden Lippen. Plötzlich setzte Mendel das Glas ab und sagte: „Wir werden nach Amerika fahren. Menuchim muß zurückbleiben. Wir müssen Mirjam mitnehmen. Ein Unglück schwebt über uns, wenn wir bleiben.” Er blieb eine Weile still und sagte dann leise:

„Sie geht mit einem Kosaken.”

Das Glas fiel klirrend aus den Händen Deborahs. Mirjam erwachte in der Ecke, und Menuchim regte sich in seinem dumpfen Schlaf. Dann blieb es still. Millionen Lerchen trillerten über dem Haus, unter dem Himmel.

Mit einem hellen Blitz schlug die Sonne ans Fenster, traf den blanken Samowar aus Blech und entzündete ihn zu einem gewölbten Spiegel. So begann der Tag.

VII

Nach Dubno fährt man mit Sameschkins Fuhre; nach Moskau fährt man mit der Eisenbahn; nach Amerika fährt man nicht nur auf einem Schiff, sondern auch mit Dokumenten. Um diese zu bekommen, muß man nach Dubno.

Also begibt sich Deborah zu Sameschkin. Sameschkin sitzt nicht mehr auf der Ofenbank, er ist überhaupt nicht zu Haus, es ist Donnerstag und Schweinemarkt, Sameschkin kann erst in einer Stunde heimkehren.

Deborah geht auf und ab, auf und ab vor Sameschkins Hütte, sie denkt nur an Amerika.

Ein Dollar ist mehr als zwei Rubel, ein Rubel hat hundert Kopeken, zwei Rubel enthalten zweihundert Kopeken, wieviel, um Gottes willen, enthält ein Dollar Kopeken? Wieviel Dollar ferner wird Schemarjah schicken? Amerika ist ein gesegnetes Land.

Mirjam geht mit einem Kosaken, in Rußland kann sie es wohl, in Amerika gibt es keine Kosaken. Rußland ist ein trauriges Land, Amerika ist ein freies Land, ein fröhliches Land. Mendel wird kein Lehrer mehr sein, der Vater eines reichen Sohnes wird er sein.

Es dauert nicht eine Stunde, es dauert nicht zwei Stunden, erst nach drei Stunden hört Deborah Sameschkins genagelte Stiefel.

Es ist Abend, aber immer noch heiß. Die schräge Sonne ist schon gelb geworden, aber weichen will sie nicht, sehr langsam geht sie heute unter. Deborah schwitzt vor Hitze und Aufregung und hundert ungewohnten Gedanken.

Nun, da Sameschkin herankommt, wird ihr noch mehr heiß. Er trägt eine schwere Bärenmütze, zottelig und an einigen Stellen räudig, und einen kurzen Pelz über schmutzigen Leinenhosen, die in den schweren Stiefeln stecken. Dennoch schwitzt er nicht.

In dem Augenblick, in dem ihn Deborah sieht, riecht sie ihn auch schon, denn er stinkt nach Branntwein. Einen schweren Stand wird sie mit ihm haben. Es ist schon keine Kleinigkeit, den nüchternen Sameschkin herumzukriegen.

Am Montag ist Schweinemarkt in Dubno. Es ist nicht von Vorteil, daß Sameschkin bereits den Schweinemarkt zu Hause absolviert hat, er dürfte keine Veranlassung mehr haben, nach Dubno zu fahren, und die Fuhre wird Geld kosten.

Deborah tritt Sameschkin mitten in den Weg. Er taumelt, die schweren Stiefel halten ihn aufrecht. Ein Glück, daß er nicht barfuß ist! denkt Deborah, nicht ohne Verachtung.

Sameschkin erkennt die Frau nicht, die ihm den Weg verstellt. „Weg mit den Weibern!”, ruft er und macht eine Bewegung mit der Hand, halb ein Griff und halb ein Schlagen.

„Ich bin es!”, sagt Deborah tapfer. „Montag fahren wir nach Dubno!” „Gott segne dich!”, ruft Sameschkin freundlich. Er bleibt stehen und stützt sich mit dem Ellenbogen auf Deborahs Schulter. Sie hat Angst, sich zu rühren, damit Sameschkin nicht hinfalle.

Sameschkin wiegt gute siebzig Kilo, sein ganzes Gewicht liegt jetzt im Ellenbogen, und dieser Ellenbogen liegt auf Deborahs Schulter.

Zum ersten Mal ist ihr ein fremder Mann so nahe. Sie fürchtet sich, aber sie denkt zugleich auch, daß sie schon alt ist, sie denkt auch an Mirjams Kosaken und wie lange sie Mendel nicht mehr berührt hat.

„Ja, mein Süßes”, sagt Sameschkin, „wir fahren Montag nach Dubno und unterwegs schlafen wir miteinander.”

„Pfui, du Alter”, sagt Deborah, „ich werde es deiner Frau sagen, vielleicht bist du besoffen?” „Besoffen ist er nicht”, erwiderte Sameschkin, „er hat nur gesoffen. Was willst du überhaupt in Dubno, wenn du nicht mit Sameschkin schläfst?”

„Dokumente machen”, sagt Deborah, „wir fahren nach Amerika.”

„Die Fuhre kostet fünfzig Kopeken, wenn du nicht schläfst, und dreißig, wenn du mit ihm schläfst. Ein Kindchen wird er dir machen, bekommen wirst du es in Amerika, ein Andenken an Sameschkin.”

Deborah erschauert, mitten in der Hitze.

Dennoch sagt sie, aber erst nach einer Minute: „Ich schlafe nicht mit dir und zahle fünfunddreißig Kopeken.”

Sameschkin steht plötzlich frei, er hat den Ellenbogen von Deborahs Schulter weggezogen, es scheint, daß er nüchtern geworden ist.

„Fünfunddreißig Kopeken”, sagt er mit fester Stimme.

„Montag um fünf Uhr früh.”

„Montag um fünf Uhr früh.”

Sameschkin kehrt in seinen Hof ein, und Deborah geht langsam nach Haus.

Die Sonne ist untergegangen. Der Wind kommt vom Westen, am Horizont schichten sich violette Wolken, morgen wird es regnen. Deborah denkt: Morgen wird es regnen, und fühlt einen rheumatischen Schmerz im Knie, sie begrüßt ihn, den alten, treuen Feind. Der Mensch wird alt! denkt sie. Die Frauen werden schneller alt als die Männer, Sameschkin ist genauso alt wie sie und noch älter. Mirjam ist jung, sie geht mit einem Kosaken.

Vor dem Wort „Kosaken”, das sie laut gesagt hatte, war Deborah erschrocken. Es war, als ob erst der Klang ihr die Furchtbarkeit des Tatbestands bewußtgemacht hätte.

Zu Hause sah sie ihre Tochter Mirjam und ihren Mann Mendel. Sie saßen am Tisch, der Vater und die Tochter, und sie schwiegen so beharrlich, daß Deborah sofort beim Eintritt wußte, daß es bereits ein altes Schweigen war, ein heimisches, festgesiedeltes Schweigen.

„Ich habe mit Sameschkin gesprochen”, begann Deborah. „Montag um fünf Uhr früh fahre ich nach Dubno um die Dokumente. Fünfunddreißig Kopeken will er.” Und da sie der Teufel der Eitelkeit ritt, fügte sie hinzu: „So billig fährt er nur mit mir!”

„Du kannst überhaupt nicht allein fahren”, sagte, Müdigkeit in der Stimme und Bangnis im Herzen, Mendel Singer. „Ich

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