Hiob - Józef Roth (książki naukowe online .txt) 📖
- Autor: Józef Roth
- Epoka: Romantyzm
- Rodzaj: Epika
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„Du beim Urjadnik?”
Es war in der Tat nicht einfach, sich Mendel Singer in einem Amt vorzustellen. Nie in seinem Leben hatte er mit einem Urjadnik gesprochen. Nie hatte er einem Polizisten begegnen können, ohne zu zittern. Den Uniformierten, den Pferden und den Hunden ging er sorgfältig aus dem Weg. Mendel sollte mit einem Urjadnik sprechen?
„Kümmere dich nicht, Mendel”, sagte Deborah, „um die Dinge, die du nur verderben kannst. Ich allein werde alles richten.”
„Alle Juden”, wendete Mendel ein, „haben mir gesagt, daß ich persönlich erscheinen muß.”
„Dann fahren wir Montag zusammen!”
„Und wo wird Menuchim sein?”
„Mirjam bleibt bei ihm!”
Mendel sah seine Frau an. Er versuchte, mit seinem Blick ihre Augen zu treffen, die sie unter den Lidern furchtsam verbarg. Mirjam, die von einer Ecke aus den Tisch betrachtete, konnte den Blick ihres Vaters sehen, ihr Herz ging schneller. Montag war sie verabredet. Montag war sie verabredet. Die ganze heiße Zeit des Spätsommers war sie verabredet. Ihre Liebe blühte spät, zwischen den hohen Ähren, Mirjam hatte Angst vor der Ernte. Sie hörte schon manchmal, wie die Bauern sich vorbereiteten, wie sie die Sicheln wetzten an den blauen Schleifsteinen. Wo sollte sie hin, wenn die Felder kahl wurden? Sie mußte nach Amerika. Eine vage Vorstellung von der Freiheit der Liebe in Amerika, zwischen den hohen Häusern, die noch besser verbargen als die Kornähren im Feld, tröstete sie über das Nahen der Ernte. Schon kam sie. Mirjam hatte keine Zeit zu verlieren. Sie liebte Stepan. Er würde zurückbleiben. Sie liebte alle Männer, die Stürme brachen aus ihnen, ihre gewaltigen Hände zündeten dennoch sachte die Flammen im Herzen an. Stepan hießen die Männer, Iwan und Wsewolod. In Amerika gab es noch viel mehr Männer.
„Ich bleibe nicht allein zu Hause”, sagte Mirjam, „ich habe Angst!” „Man muß ihr”, ließ sich Mendel vernehmen, „einen Kosaken ins Haus stellen. Damit er sie bewacht.”
Mirjam wurde rot. Sie glaubte, daß der Vater ihre Röte sah, obwohl sie in der Ecke, im Schatten stand. Ihre Röte mußte doch durch das Dunkel leuchten, wie eine rote Lampe war Mirjams Angesicht entzündet. Sie bedeckte es mit den Händen und brach in Tränen aus.
„Geh hinaus!”, sagte Deborah, „es ist spät, mach die Fensterläden zu!” Sie tastete sich hinaus, vorsichtig, die Hände immer noch vor den Augen. Draußen blieb sie einen Moment stehen. Alle Sterne des Himmels standen da, nah und lebendig, als hätten sie Mirjam vor dem Haus erwartet. Ihre klare, goldene Pracht enthielt die Pracht der großen, freien Welt, kleine Spiegelchen waren sie, in denen sich der Glanz Amerikas spiegelte.
Sie trat ans Fenster, sah hinein, versuchte aus den Mienen der Eltern zu erkennen, was sie sprechen mochten. Sie erkannte nichts. Sie löste die eisernen Haken von dem Holz der aufgeklappten Läden und schloß die beiden Flügel wie einen Schrank. Sie dachte an einen Sarg. Sie begrub die Eltern in dem kleinen Häuschen. Sie fühlte keine Wehmut. Mendel und Deborah Singer waren begraben. Die Welt war weit und lebendig. Stepan, Iwan und Wsewolod lebten. Amerika lebte, jenseits des großen Wassers, mit all seinen hohen Häusern und mit Millionen Männern.
Als sie wieder ins Zimmer trat, sagte ihr Vater, Mendel Singer:
„Sogar die Läden kann sie nicht schließen, eine halbe Stunde braucht sie dazu!”
Er ächzte, erhob sich und trat an die Wand, an der die kleine Petroleumlampe hing, dunkelblauer Behälter, rußiger Zylinder, durch einen rostigen Draht verbunden mit einem gesprungenen runden Spiegel, der die Aufgabe hatte, das spärliche Licht kostenlos zu verstärken. Die obere Öffnung des Zylinders überragte Mendel Singers Kopf. Vergeblich versuchte er, die Lampe auszupusten. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, er blies, aber der Docht flackerte nur stärker auf.
Indessen entzündete Deborah ein kleines, gelbliches Wachslicht und stellte es auf den Ziegelherd. Mendel Singer stieg krächzend auf einen Sessel und blies endlich die Lampe aus. Mirjam legte sich in die Ecke, neben Menuchim. Erst wenn es finster war, wollte sie sich ausziehen. Sie wartete atemlos, mit geschlossenen Lidern, bis der Vater sein Nachtgebet zu Ende gemurmelt hatte. Durch ein rundes Astloch im Fensterladen sah sie das blaue und goldene Schimmern der Nacht. Sie entkleidete sich und befühlte ihre Brüste. Sie taten ihr weh. Ihre Haut hatte ein eigenes Gedächtnis und erinnerte sich an jeder Stelle der großen, harten und heißen Hände der Männer. Ihr Geruch hatte ein eigenes Gedächtnis und behielt den Duft von Männerschweiß, Branntwein und Juchten unablässig, mit quälender Treue. Sie hörte das Schnarchen der Eltern und das Röcheln Menuchims. Da erhob sich Mirjam, im Hemd, barfuß, mit den schweren Zöpfen, die sie nach vorne legte und deren Enden bis zu den Schenkeln reichten, schob den Riegel zurück und trat hinaus in die fremde Nacht. Sie atmete tief. Es schien ihr, daß sie die ganze Nacht einatmete, alle goldenen Sterne verschlang sie mit dem Atem, immer noch mehr brannten am Himmel. Frösche quakten und Grillen zirpten, den nordöstlichen Rand des Himmels säumte ein breiter, silberner Streifen, in dem schon der Morgen enthalten zu sein schien. Mirjam dachte an das Kornfeld, ihr Hochzeitslager. Sie ging rund um das Haus. Da schimmerte von ferne her die große, weiße Mauer der Kaserne. Ein paar kärgliche Lichter schickte sie Mirjam entgegen. In einem großen Saal schliefen Stepan, Iwan und Wsewolod und viele andere Männer.
Morgen war Freitag. Alles mußte man für den Samstag vorbereiten, die Fleischkugeln, den Hecht und die Hühnerbrühe. Das Backen begann schon um sechs Uhr morgens. Als der breite, silberne Streifen rötlich wurde, schlich sich Mirjam wieder in die Stube. Sie schlief nicht mehr ein. Durch das Astloch im Fensterladen sah sie die ersten Flammen der Sonne. Schon regten sich Vater und Mutter im Schlaf. Der Morgen war da.
Der Sabbat verging, den Sonntag verbrachte Mirjam im Kornfeld, mit Stepan. Sie gingen schließlich weit hinaus, ins nächste Dorf, Mirjam trank Schnaps. Den ganzen Tag suchte man sie zu Hause. Mochte man sie suchen! Ihr Leben war kostbar, der Sommer war kurz, bald begann die Ernte. Im Walde schlief sie noch einmal mit Stepan. Morgen, Montag, fuhr der Vater nach Dubno die Papiere besorgen.
Um fünf Uhr früh am Montag erhob sich Mendel Singer. Er trank Tee, betete, legte dann schnell die Gebetsriemen ab und ging zu Sameschkin. „Guten Morgen!”, rief er von weitem. Es war Mendel Singer, als begänne schon hier, vor dem Einsteigen in die Fuhre Sameschkins, die Amtshandlung und als müßte er Sameschkin begrüßen wie einen Urjadnik.
„Ich fahre lieber mit deiner Frau!”, sagte Sameschkin. „Sie ist noch ansehnlich für ihre Jahre und hat einen anständigen Busen.”
„Fahren wir”, sagte Mendel.
Die Pferde wieherten und schlugen mit den Schwänzen auf ihre Hinterteile. „Hej! Wjo!”, rief Sameschkin und knallte mit der Peitsche.
Um elf Uhr vormittags kamen sie nach Dubno.
Mendel mußte warten. Er trat, die Mütze in der Hand, durch das große Portal. Der Portier trug einen Säbel.
„Wohin willst du?”, fragte er.
„Ich will nach Amerika — wo muß ich hin?”
„Wie heißt du?”
„Mendel Mechelovitsch Singer.”
„Wozu willst du nach Amerika?”
„Geld verdienen, es geht mir schlecht.”
„Du gehst auf Nummer 84”, sagte der Portier. „Dort warten schon viele.”
Sie saßen in einem großen, gewölbten, ockergelb getünchten Korridor. Männer in blauen Uniformen wachten vor den Türen. Die Wände entlang standen braune Bänke — alle Bänke waren besetzt. Aber sooft ein Neuer kam, machten die blauen Männer eine Handbewegung; und die schon saßen, rückten zusammen, und immer wieder nahm ein Neuer Platz. Man rauchte, spuckte, knackte Kürbiskerne und schnarchte. Der Tag war hier kein Tag. Durch das Milchglas eines sehr hohen, sehr fernen Oberlichts konnte man eine blasse Ahnung vom Tag erhaschen. Uhren tickten irgendwo, aber sie gingen gleichsam neben der Zeit einher, die in diesen hohen Korridoren stillestand.
Manchmal rief ein Mann in blauer Uniform einen Namen aus. Alle Schläfer erwachten. Der Aufgerufene erhob sich, wankte einer Tür zu, rückte an seinem Anzug und trat durch eine der hohen, zweiflügeligen Türen, die statt einer Klinke einen runden, weißen Knopf hatte. Mendel überlegte, wie er diesen Knopf behandeln würde, um die Tür aufzumachen. Er stand auf, vom langen Sitzen, eingezwängt zwischen den Menschen, taten ihm die Glieder weh. Kaum aber hatte er sich erhoben, als ein blauer Mann auf ihn zutrat. „Sidaj!”, rief der blaue Mann, „setz dich!” Mendel Singer fand keinen Platz mehr auf seiner Bank. Er blieb neben ihr stehen, drückte sich an die Wand und hatte den Wunsch, so flach zu werden wie die Mauer.
„Wartest du auf Nummer 84?”, fragte der blaue Mann.
„Ja”, sagte Mendel. Er war überzeugt, daß man jetzt gesonnen war, ihn endgültig hinauszuwerfen. Deborah wird noch einmal hierherfahren müssen. Fünfzig Kopeken und fünfzig Kopeken machen einen Rubel. Aber der blaue Mann hatte nicht die Absicht, Mendel aus dem Haus zu weisen. Dem blauen Mann lag vor allem daran, daß alle Wartenden ihre Plätze behielten und daß er alle übersehen konnte. Wenn einer schon aufstand, so konnte er auch eine Bombe werfen.
Anarchisten verkleiden sich manchmal, dachte der Türsteher. Und er winkte Mendel zu sich heran, betastete den Juden, fragte nach den Papieren. Und da alles in Ordnung war und Mendel keinen Platz mehr hatte, sagte der blaue Mann: „Paß auf! Siehst du die gläserne Tür? Die machst du auf. Dort ist Nummer 84.”
„Was willst du hier?”, schrie ein breitschultriger Mann hinter dem Schreibtisch. Genau unter dem Bild des Zaren saß der Beamte. Er bestand aus einem Schnurrbart, einem kahlen Kopf, Epauletten und Knöpfen. Er war wie eine schöne Büste hinter seinem breiten Tintenfaß aus Marmor, „Wer hat dir erlaubt, hier ohne weiteres einzutreten? Warum meldest du dich nicht an?”, polterte eine Stimme aus der Büste. Mendel Singer verbeugte sich unterdessen tief. Auf solch einen Empfang war er nicht vorbereitet gewesen. Er beugte sich und ließ den Donner über seinen Rücken dahinstreichen, er wollte winzig werden, dem Erdboden gleich, wie wenn er von einem Gewitter auf freiem Felde überrascht worden wäre. Die Falten seines langen Rockes schlugen auseinander, und der Beamte sah ein Stück von Mendel Singers fadenscheiniger Hose und das abgeschabte Leder der Stiefelschäfte. Dieser Anblick machte den Beamten milder. „Tritt näher!”, befahl er, und Mendel rückte näher, den Kopf vorgeschoben, als wollte er gegen den Schreibtisch vorstoßen. Erst als er sah, daß er sich schon dem Saum des Teppichs näherte, hob Mendel ein wenig den Kopf. Der Beamte lächelte.
„Her mit den Papieren!”, sagte er.
Dann war es still. Man hörte eine Uhr ticken. Durch die Jalousien brach das goldene Licht eines späten Nachmittags. Die Papiere raschelten. Manchmal sann der Beamte eine Weile nach, blickte in die Luft und haschte plötzlich mit der Hand nach einer Fliege. Er hielt das winzige Tier in seiner riesigen Faust, öffnete sie vorsichtig, zupfte einen Flügel ab, dann den zweiten und sah noch ein bißchen zu, wie das verkrüppelte Insekt auf dem Schreibtisch weiterkroch.
„Das Gesuch?”, fragte er plötzlich, „wo ist das Gesuch?”
„Ich kann nicht schreiben, Euer Hochwohlgeboren!”, entschuldigte sich Mendel.
„Das weiß ich, du Tepp, daß du nicht schreiben kannst! Ich habe nicht nach deinem Schulzeugnis gefragt, sondern nach dem Gesuch. Und wozu haben wir einen Schreiber? Ha? Im Parterre? Auf Nummer 3? Ha? Wozu erhält der Staat einen Schreiber? Für dich, du Esel, weil du eben nicht schreiben kannst. Also geh auf Nummer 3. Schreib das Gesuch. Sag, ich schicke dich, damit du nicht zu warten brauchst und gleich behandelt wirst. Dann kommst du zu mir. Aber morgen! Und morgen Nachmittag kannst du meinetwegen wegfahren!”
Noch einmal verneigte sich Mendel. Er ging rückwärts, er wagte nicht, dem Beamten den Rücken zu kehren, unendlich lang schien ihm der Weg vom Schreibtisch zur Tür. Er glaubte, schon eine Stunde zu wandern. Endlich fühlte er die Nähe der Tür. Er wandte sich schnell um, ergriff den Knopf, drehte ihn zuerst links, dann rechts, dann machte er noch eine Verbeugung. Er stand endlich wieder im Korridor.
In Nummer 3 saß ein gewöhnlicher Beamter, ohne Epauletten. Es war eine dumpfe, niedrige Stube, viele Menschen umstanden den Tisch, der Schreiber schrieb und schrieb, die Feder stieß er jedes Mal ungeduldig auf den Boden des Tintenbehälters. Er schrieb flink, aber er wurde nicht fertig. Immer kamen neue Menschen. Trotzdem hatte er noch Zeit, Mendel zu bemerken.
„Euer Hochwohlgeboren, der Herr von Nummer 84 schickt mich”, sagte Mendel.
„Komm her”, sagte der Schreiber.
Man machte Mendel Singer Platz.
„Einen Rubel für den Stempel!”, sagte der Schreiber. Mendel kramte einen Rubel aus seinem blauen Taschentuch. Es war ein harter, blanker Rubel. Der Schreiber nahm die Münze nicht, er erwartete noch mindestens fünfzig Kopeken. Mendel verstand nichts von den ziemlich deutlichen Wünschen des Schreibers.
Da wurde der Schreiber böse. „Sind das Papiere?”, sagte er. „Fetzen sind es! Die zerfallen einem ja in der Hand.” Und er zerriß wie unabsichtlich eines der Dokumente, es zerfiel in zwei gleiche Teile, und der Beamte
Uwagi (0)