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zu Mendel, beugt sich zu ihm und nimmt mit beiden Händen Mendels beide Hände. Da verwandelt sich Mendels Lachen in Weinen, er schluchzt, und die Tränen fließen aus den alten, halb verhüllten Augen in den wild wuchernden Bart, verlieren sich im wüsten Gestrüpp, andere bleiben lange und rund und voll wie gläserne Tropfen in den Haaren hängen.

Endlich ist Mendel ruhig. Er sieht Kossak gerade an und wiederholt: „Menuchim lebt?”

Der Fremde sieht Mendel ruhig an und sagt: „Menuchim lebt, er ist gesund, es geht ihm sogar gut!”

Mendel faltet die Hände, er hebt sie, so hoch er kann, dem Plafond entgegen. Er möchte aufstehen. Er hat das Gefühl, daß er jetzt aufstehen müßte, gerade werden, wachsen, groß und größer werden, über das Haus hinauf und mit den Händen den Himmel berühren. Er kann die gefalteten Hände nicht mehr lösen. Er blickt zu Skowronnek, und der alte Freund weiß, was er jetzt zu fragen hat, an Mendels Statt.

„Wo ist Menuchim jetzt?”, fragt Skowronnek.

Und langsam erwidert Alexej Kossak:

„Ich selbst bin Menuchim.”

Alle erheben sich plötzlich von den Sitzen, die Kinder, die schon geschlafen haben, erwachen und brechen in Weinen aus. Mendel selbst steht so heftig auf, daß hinter ihm sein Stuhl mit lautem Krach hinfällt. Er geht, er eilt, er hastet, er hüpft zu Kossak, dem einzigen, der sitzen geblieben ist. Es ist ein großer Aufruhr im Zimmer. Die Kerzen beginnen zu flackern, als würden sie plötzlich von einem Wind angeweht. An den Wänden flattern die Schatten stehender Menschen, Mendel sinkt vor dem sitzenden Menuchim nieder, er sucht mit unruhigem Mund und wehendem Bart die Hände seines Sohnes, seine Lippen küssen, wo sie hintreffen, die Knie, die Schenkel, die Weste Menuchims. Mendel steht wieder auf, hebt die Hände und beginnt, als wäre er plötzlich blind geworden, mit heftigen Fingern das Gesicht seines Sohnes abzutasten. Die stumpfen, alten Finger huschen über die Haare Menuchims, die glatte, breite Stirn, die kalten Gläser der Brille, die schmalen, geschlossenen Lippen. Menuchim sitzt ruhig und rührt sich nicht. Alle Anwesenden umringen Menuchim und Mendel, die Kinder weinen, die Kerzen flackern, die Schatten der Wand ballen sich zu schweren Wolken zusammen. Niemand spricht. Endlich erklingt Menuchims Stimme: „Steh auf, Vater!”, sagt er, greift Mendel unter die Arme, hebt ihn hoch und setzt ihn auf den Schoß wie ein Kind. Die andern entfernen sich wieder. Jetzt sitzt Mendel auf dem Schoß seines Sohnes, lächelt in die Runde, jedem ins Angesicht. Er flüstert: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark.” Deborah hat es gesagt. Er hört noch ihre Stimme.

Skowronnek verläßt den Tisch, legt seinen Kittel ab, zieht seinen Mantel an und sagt: „Gleich komme ich wieder!” Wohin geht Skowronnek? Es ist noch nicht spät, kaum elf Uhr, die Freunde sitzen noch an den Tischen. Er geht von Haus zu Haus, zu Groschel, Menkes und Rottenberg. Alle sind noch an den Tischen zu finden. „Ein Wunder ist geschehen! Kommt zu mir und seht es an!” Er führt alle drei zu Mendel. Unterwegs begegnen sie der Tochter Lemmels, die ihre Gäste begleitet hat. Sie erzählen ihr von Mendel und Menuchim. Der junge Frisch, der mit seiner Frau noch ein bißchen spazierengeht, hört ebenfalls die Neuigkeit. Also erfahren einige, was sich ereignet hat. Unten vor dem Hause Skowronneks steht als Beweis das Automobil, in dem Menuchim gekommen ist. Ein paar Leute öffnen die Fenster und sehen es. Menkes, Groschel, Skowronnek und Rottenberg treten ins Haus. Mendel geht ihnen entgegen und drückt ihnen stumm die Hände.

Menkes, der Bedächtigste von allen, nahm das Wort. „Mendel”, sagte er, „wir sind gekommen, dich in deinem Glück zu sehen, wie wir dich im Unglück gesehen haben. Erinnerst du dich, wie du geschlagen warst? Wir trösteten dich, aber wir wußten, daß es umsonst war. Nun erlebst du ein Wunder am lebendigen Leibe. Wie wir damals mit dir traurig waren, so sind wir heute mit dir fröhlich. Groß sind die Wunder, die der Ewige vollbringt, heute noch wie vor einigen tausend Jahren. Gelobt sei Sein Name!” Alle standen. Die Töchter Skowronneks, die Kinder, die Schwiegersöhne und der Reisende in Musikalien waren schon in Überkleidern und nahmen Abschied. Mendels Freunde setzten sich nicht, denn sie waren nur zu einem kurzen Glückwunsch gekommen. Kleiner als sie alle, mit gekrümmtem Rücken, im grünlich schillernden Rock stand Mendel in ihrer Mitte, wie ein unscheinbarer, verkleideter König. Er mußte sich recken, um ihnen in die Gesichter zu sehen. „Ich danke euch”, sagte er. „Ohne eure Hilfe hätte ich diese Stunde nicht erlebt. Seht euch meinen Sohn an!” Er zeigte mit der Hand auf ihn, als könnte irgendjemand von den Freunden nicht gründlich genug Menuchim betrachten. Ihre Augen befühlten den Stoff des Anzugs, die seidene Krawatte, die Perle, die schmalen Hände und den Ring. Dann sagten sie: „Ein edler junger Mann! Man sieht, daß er ein Besonderer ist!”

„Ich habe kein Haus”, sagte Mendel zu seinem Sohn. „Du kommst zu deinem Vater, und ich weiß nicht, wo dich schlafen zu legen.”

„Ich möchte dich mitnehmen, Vater”, erwiderte der Sohn. „Ich weiß nicht, ob du fahren darfst, weil ja Feiertag ist.”

„Er darf fahren”, sagten alle wie aus einem Munde.

„Ich glaube, daß ich mit dir fahren darf”, meinte Mendel. „Schwere Sünden hab’ ich begangen, der Herr hat die Augen zugedrückt. Einen Isprawnik hab’ ich Ihn genannt. Er hat sich die Ohren zugehalten. Er ist so groß, daß unsere Schlechtigkeit ganz klein wird. Ich darf mit dir fahren.”

Alle begleiteten Mendel zum Wagen. An diesem und jenem Fenster standen Nachbarn und Nachbarinnen und sahen hinunter. Mendel holte seine Schlüssel, sperrte noch einmal den Laden auf, ging ins Hinterzimmer und nahm das rotsamtene Säckchen vom Nagel. Er blies darauf, um es vom Staub zu befreien, ließ den Rolladen herunter, sperrte zu und gab Skowronnek die Schlüssel. Mit dem Sack im Arm stieg er ins Auto. Der Motor ratterte. Die Scheinwerfer leuchteten auf. Aus dem und jenem Fenster riefen Stimmen: „Auf Wiedersehen, Mendel!” Mendel Singer ergriff Menkes am Ärmel und sagte: „Morgen, beim Gebet, wirst du verkünden lassen, daß ich dreihundert Dollar für Arme spende. Lebt wohl!”

Und er fuhr an der Seite seines Sohnes in den vierundvierzigsten Broadway, ins Astor Hotel.

XVI

Kümmerlich und gebeugt, im grünlich schillernden Rock, das rotsamtene Säckchen im Arm, betrat Mendel Singer die Halle, betrachtete das elektrische Licht, den blonden Portier, die weiße Büste eines unbekannten Gottes vor dem Aufgang zur Stiege und den schwarzen Neger, der ihm den Sack abnehmen wollte. Er stieg in den Lift und sah sich im Spiegel neben seinem Sohn, er schloß die Augen, denn er fühlte sich schwindlig werden. Er war schon gestorben, er schwebte in den Himmel, es nahm kein Ende. Der Sohn faßte ihn bei der Hand, der Lift hielt, Mendel ging auf einem lautlosen Teppich durch einen langen Korridor. Er öffnete erst die Augen, als er im Zimmer stand. Wie es seine Gewohnheit war, trat er sofort zum Fenster. Da sah er zum ersten Mal die Nacht von Amerika aus der Nähe, den geröteten Himmel, die flammenden, sprühenden, tropfenden, glühenden, roten, blauen, grünen, silbernen, goldenen Buchstaben, Bilder und Zeichen. Er hörte den lärmenden Gesang Amerikas, das Hupen, das Tuten, das Dröhnen, das Klingeln, das Kreischen, das Knarren, das Pfeifen und das Heulen. Dem Fenster gegenüber, an dem Mendel lehnte, erschien jede fünfte Sekunde das breite, lachende Gesicht eines Mädchens, zusammengesetzt aus lauter hingesprühten Funken und Punkten, das blendende Gebiß in dem geöffneten Mund aus einem Stück geschmolzenen Silbers. Diesem Angesicht entgegen schwebte ein rubinroter, überschäumender Pokal, kippte von selbst um, ergoß seinen Inhalt in den offenen Mund und entfernte sich, um neu gefüllt wieder zu erscheinen, rubinrot und weißgischtig überschäumend. Es war eine Reklame für eine neue Limonade. Mendel bewunderte sie als die vollkommenste Darstellung des nächtlichen Glücks und der goldenen Gesundheit. Er lächelte, sah das Bild ein paarmal kommen und verschwinden und wandte sich wieder dem Zimmer zu. Da stand aufgeschlagen sein weißes Bett. In einem Schaukelstuhl wiegte sich Menuchim. „Ich werde heute nicht schlafen”, sagte Mendel. „Leg du dich schlafen, ich werde neben dir sitzen. Im Winkel hast du geschlafen, in Zuchnow, neben dem Herd.” „Ich erinnere mich genau an einen Tag”, begann Menuchim, nahm seine Brille ab, und Mendel sah die nackten Augen seines Sohnes, traurig und müde erschienen sie ihm, „ich erinnere mich an einen Vormittag, die Sonne ist sehr hell, das Zimmer leer. Da kommst du, hebst mich hoch, ich sitze auf einem Tisch, und du klingelst an ein Glas mit einem Löffel. Es war ein wunderbares Klingeln, ich wollte, ich könnte es heute komponieren und spielen. Dann singst du. Dann beginnen die Glocken zu läuten, ganz alte, wie große, schwere Löffel schlagen sie an riesengroße Gläser.” „Weiter, weiter”, sagte Mendel. Auch er erinnerte sich genau an jenen Tag, an dem Deborah aus dem Hause ging, die Reise zu Kapturak vorbereiten. „Das ist aus frühen Tagen das einzige!”, sagte der Sohn. „Dann kommt die Zeit, wo Billes’ Schwiegersohn, der Geiger, spielt. Jeden Tag, glaube ich, spielt er. Er hört zu spielen auf, aber ich höre ihn immer, den ganzen Tag, die ganze Nacht.” „Weiter, weiter!”, mahnte Mendel in dem Ton, in dem er seine Schüler immer zum Lernen angeeifert hatte. „Dann ist lange nichts! Dann sehe ich eines Tages einen großen roten und blauen Brand. Ich lege mich auf den Boden. Ich krieche zur Tür. Plötzlich reißt mich jemand hoch und treibt mich, ich laufe. Ich bin draußen, die Leute stehen auf der andern Seite der Gasse. Feuer! schreit es aus mir!” „Weiter, weiter!”, mahnte Mendel. „Ich weiß nichts mehr. Man sagte mir dann später, ich wäre lange krank und bewußtlos gewesen. Ich erinnere mich erst an die Zeiten in Petersburg, ein weißer Saal, weiße Betten, viele Kinder in den Betten, ein Harmonium oder eine Orgel spielt, und ich singe mit lauter Stimme dazu. Dann führt mich der Doktor im Wagen nach Haus. Eine große, blonde Frau in einem blaßblauen Kittel spielt Klavier. Sie steht auf. Ich gehe an die Tasten, es klingt, wenn ich sie anrühre. Plötzlich spiele ich die Lieder der Orgel und alles, was ich singen kann.” „Weiter, weiter!”, mahnte Mendel. „Ich wüßte nichts weiter, was mich mehr anginge als diese paar Tage. Ich erinnere mich an die Mutter. Es war warm und weich bei ihr, ich glaube, sie hatte eine sehr tiefe Stimme, und ihr Gesicht war sehr groß und rund wie eine ganze Welt.” „Weiter, weiter!”, sagte Mendel. „An Mirjam, an Jonas, an Schemarjah erinnere ich mich nicht. Von ihnen habe ich erst viel später gehört, durch Billes’ Tochter.”

Mendel seufzte. „Mirjam”, wiederholte er. Sie stand vor ihm, im goldgelben Schal, mit den blauschwarzen Haaren, flink und leichtfüßig, eine junge Gazelle. Seine Augen hatte sie. „Ein schlechter Vater war ich”, sagte Mendel. „Dich habe ich schlecht behandelt und sie. Jetzt ist sie verloren, keine Medizin kann ihr helfen.” „Wir werden zu ihr gehen”, sagte Menuchim. „Ich selbst, Vater, bin ich nicht geheilt worden?”

Ja, Menuchim hatte recht. Der Mensch ist unzufrieden, sagte sich Mendel. Eben hat er ein Wunder erlebt, schon will er das nächste sehen. Warten, warten, Mendel Singer! Sieh nur, was aus Menuchim, dem Krüppel, geworden ist. Schmal sind seine Hände, klug sind seine Augen, zart sind seine Wangen.

„Geh, schlafen, Vater!”, sagte der Sohn. Er ließ sich auf den Boden nieder und zog Mendel Singer die alten Stiefel aus. Er betrachtete die Sohlen, die zerrissen waren, gezackte Ränder hatten, das gelbe, geflickte Oberleder, die ruppig gewordenen Schäfte, die durchlöcherten Socken, die ausgefransten Hosen. Er entkleidete den Alten und legte ihn ins Bett. Dann verließ er das Zimmer, holte aus seinem Koffer ein Buch, kehrte zum Vater zurück, setzte sich in den Schaukelstuhl neben das Bett, entzündete die kleine, grüne Lampe und begann zu lesen. Mendel tat, als ob er schliefe. Er blinzelte durch einen schmalen Spalt zwischen den Lidern. Sein Sohn legte das Buch weg und sagte: „Du denkst an Mirjam, Vater! Wir werden sie besuchen. Ich werde Ärzte rufen. Man wird sie heilen. Sie ist noch jung! Schlaf ein!” Mendel schloß die Augen, aber er schlief nicht ein. Er dachte an Mirjam, hörte die ungewohnten Geräusche der Welt, fühlte durch die geschlossenen Lider die nächtlichen Flammen des hellen Himmels. Er schlief nicht, aber es war ihm wohl, er ruhte aus. Mit wachem Kopf lag er gebettet in Schlaf und erwartete den Morgen.

Der Sohn bereitete ihm das Bad, kleidete ihn an, setzte ihn in den Wagen. Sie fuhren lange, durch geräuschvolle Straßen, sie verließen die Stadt, sie kamen auf einen langen und breiten Weg, an dessen Rändern knospende Bäume standen. Der Motor summte hell, im Winde wehte Mendels Bart. Er schwieg. „Willst du wissen, wohin wir fahren, Vater?”, fragte der Sohn. „Nein!” antwortete Mendel. „Ich will nichts wissen! Wohin du fährst, ist es gut.”

Und sie gelangten in eine Welt, wo der weiche Sand gelb war, das weite Meer blau und alle Häuser weiß. Auf der Terrasse vor einem dieser Häuser,

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