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„Please!” — wie er es in Amerika gelernt hatte. Der Fremde trat ein. Er trug einen dunklen Mantel, hochgeschlagen war sein Kragen, den Hut behielt er auf dem Kopf, offenbar aus Andacht vor der Feier, in die er geraten war, und weil alle anwesenden Männer mit bedeckten Häuptern dasaßen.

Es ist ein feiner Mann, dachte Skowronnek. Und er knöpfte, ohne ein Wort zu sagen, dem Fremden den Mantel auf. Der Mann verneigte sich und sagte: „Ich heiße Alexej Kossak. Ich bitte um Entschuldigung. Ich bitte sehr um Entschuldigung. Man hat mir gesagt, daß sich ein gewisser Mendel Singer aus Zuchnow bei Ihnen aufhält. Ich möchte ihn sprechen.”

„Das bin ich”, sagte Mendel, trat nahe an den Gast und hob den Kopf. Seine Stirn reichte bis zur Schulter des Fremden. „Herr Kossak”, fuhr Mendel fort, „ich habe schon von Ihnen gehört. Ein Verwandter sind Sie.”

„Legen Sie ab, und setzen Sie sich mit uns an den Tisch”, sagte Skowronnek.

Frau Skowronnek erhob sich. Alle rückten zusammen. Man machte dem Fremden Platz. Skowronneks Schwiegersohn stellte noch einen Stuhl an den Tisch. Der Fremde hängte den Mantel an einen Nagel und setzte sich Mendel gegenüber. Man stellte einen Becher Wein vor den Gast. „Lassen Sie sich nicht aufhalten”, bat Kossak, „beten Sie weiter.” Sie fuhren fort. Still und schmal saß der Gast auf seinem Platz. Mendel betrachtete ihn unaufhörlich. Unermüdlich sah Alexej Kossak auf Mendel Singer. Also saßen sie einander gegenüber, umweht von dem Gesang der andern, aber von ihnen getrennt. Es war beiden angenehm, daß sie der andern wegen noch nicht miteinander sprechen konnten. Mendel suchte die Augen des Fremden. Schlug sie Kossak nieder, so war dem Alten, als müßte er den Gast bitten, sie offenzuhalten. In diesem Angesicht war Mendel Singer alles fremd, nur die Augen hinter den randlosen Gläsern waren ihm nahe. Zu ihnen schweifte immer wieder sein Blick wie in einer Heimkehr zu vertrauten, hinter Fenstern verborgenen Lichtern, aus der fremden Landschaft des schmalen, blassen und jugendlichen Gesichts. Schmal, verschlossen und glatt waren die Lippen. Wenn ich sein Vater wäre, dachte Mendel, würde ich sagen: Lächle, Alexej. Leise zog er aus der Tasche das Plakat, entfaltete es unter dem Tisch, um die andern nicht zu stören, und reichte es dem Fremden hinüber. Der nahm es und lächelte, schmal, zart und nur eine Sekunde lang.

Man unterbrach den Gesang, die Mahlzeit begann, einen Teller heißer Suppe schob Frau Skowronnek vor den Gast, und Herr Skowronnek bat ihn mitzuessen. Der Reisende in Musikalien begann ein Gespräch in Englisch mit Kossak, von dem Mendel gar nichts verstand. Dann erklärte der Reisende allen, daß Kossak ein junges Genie sei, nur noch eine Woche in New York bleibe und sich erlauben werde, den Anwesenden Freikarten zu dem Konzert seines Orchesters zu schicken. Andere Gespräche konnten nicht in Gang kommen. Man aß in wenig festlicher Eile dem Ende der Feier zu, und jeden zweiten Bissen begleitete ein höfliches Wort des Fremden oder seiner Wirte. Mendel sprach nicht. Frau Skowronnek zu Gefallen aß er noch schneller als die andern, um keinen Anlaß zu Verzögerungen zu geben. Und alle begrüßten das Ende des Mahls und fuhren eifrig fort im Absingen der Wunder. Skowronnek schlug einen immer schnelleren Rhythmus an, die Frauen konnten ihm nicht folgen. Als er aber zu den Psalmen kam, veränderte er die Stimme, das Tempo und die Melodie, und so betörend klangen die Worte, die er nunmehr sang, daß sogar Mendel am Ende jeder Strophe „Halleluja, Halleluja” wiederholte. Er schüttelte den Kopf, daß sein tiefer Bart über die aufgeschlagenen Blätter des Buches strich und ein zartes Rascheln hörbar wurde, als wollte sich der Bart Mendels an dem Gebet beteiligen, da der Mund Mendels so sparsam feierte.

Nun waren sie bald fertig. Die Kerzen waren bis zur Hälfte abgebrannt, der Tisch war nicht mehr glatt und feierlich, Flecken und Speisereste sah man auf dem weißen Tischtuch, und Skowronneks Enkel gähnten schon. Man hielt am Ende des Buches. Skowronnek sagte mit erhobener Stimme den überlieferten Wunsch: „Im nächsten Jahre in Jerusalem!” Alle wiederholten es, klappten die Bücher zu und wandten sich zum Gast. An Mendel kam jetzt die Reihe, den Besucher zu fragen. Der Alte räusperte sich, lächelte und sagte: „Nun, Herr Alexej, was wollen Sie mir erzählen?”

Mit halblauter Stimme begann der Fremde: „Ihr hattet längst von mir Nachricht gehabt, Herr Mendel Singer, wenn ich Eure Adresse gewußt hätte. Aber nach dem Kriege wußte sie niemand mehr. Billes’ Schwiegersohn, der Musikant, ist an Typhus gestorben, Euer Haus in Zuchnow stand leer, denn die Tochter Billes’ war zu ihren Eltern, die damals schon in Dubno wohnten, geflohen, und in Zuchnow, in Eurem Haus, waren österreichische Soldaten. Nun, nach dem Kriege schrieb ich an meinen Manager hierher, aber der Mann war nicht geschickt genug, er schrieb mir, daß Ihr nicht zu finden seid.”

„Schade um Billes’ Schwiegersohn!”, sagte Mendel, und er dachte dabei an Menuchim.

„Und nun”, fuhr Kossak fort, „habe ich eine angenehme Nachricht.” Mendel hob den Kopf. „Ich habe Euer Haus gekauft, vom alten Billes, vor Zeugen und auf Grund einer amtlichen Einschätzung. Und das Geld will ich Euch auszahlen.”

„Wieviel macht es?”, fragte Mendel.

„Dreihundert Dollar!”, sagte Kossak.

Mendel griff sich an den Bart und kämmte ihn mit gespreizten, zitternden Fingern. „Ich danke Ihnen!”, sagte er.

„Und was Euren Sohn Jonas betrifft”, sprach Kossak weiter, „so ist er seit dem Jahre 1915 verschollen. Niemand konnte etwas über ihn sagen. Weder in Petersburg noch in Berlin, noch in Wien, noch im Schweizer Roten Kreuz. Ich habe überall angefragt und anfragen lassen. Aber vor zwei Monaten traf ich einen jungen Mann aus Moskau. Er kam eben als Flüchtling über die polnische Grenze, denn, wie Ihr wißt, gehört Zuchnow jetzt zu Polen. Und dieser junge Mann war Jonas’ Regimentskamerad gewesen. Er sagte mir, daß er einmal durch Zufall gehört hat, daß Jonas lebt und in der weißgardistischen Armee kämpft. Nun ist es wohl ganz schwer geworden, etwas über ihn zu erfahren. Aber Ihr dürft die Hoffnung immer noch nicht aufgeben.” Mendel wollte eben den Mund auftun, um nach Menuchim zu fragen. Aber sein Freund Skowronnek, der Mendels Frage vorausahnte, eine traurige Antwort für sicher hielt und bestrebt war, betrübliche Gespräche an diesem Abend zu vermeiden oder sie wenigstens, solang es ging, zu verschieben, kam dem Alten zuvor und sagte: „Nun, Herr Kossak, da wir das Vergnügen haben, einen so großen Mann wie Sie bei uns zu sehen, machen Sie uns vielleicht noch die Freude, etwas aus Ihrem Leben zu erzählen. Wie kommt es, daß Sie den Krieg, die Revolution und alle Gefahren überstanden haben?”

Der Fremde hatte offenbar diese Frage nicht erwartet, denn er antwortete nicht sofort. Er schlug die Augen nieder wie einer, der sich schämt oder nachdenken muß, und antwortete erst nach einer längeren Weile: „Ich habe nichts Besonderes erlebt. Als Kind war ich lange krank, mein Vater war ein armer Lehrer, wie Herr Mendel Singer, mit dessen Frau ich ja verwandt bin. (Es ist jetzt nicht an der Zeit, die Verwandtschaft näher zu erläutern.) Kurz, meiner Krankheit wegen und weil wir arm waren, kam ich in eine große Stadt, in ein öffentliches medizinisches Institut. Man behandelte mich gut, ein Arzt hatte mich besonders gern, ich wurde gesund, und der Doktor behielt mich in seinem Haus. Dort”, hier senkte Kossak die Stimme und den Kopf, und es war, als spräche er zum Tisch, so daß alle den Atem anhielten, um ihn genau zu hören, „dort setzte ich mich eines Tages an das Klavier und spielte aus dem Kopf eigene Lieder. Und die Frau des Doktors schrieb die Noten zu meinen Liedern. Der Krieg war mein Glück. Denn ich kam zur Militärmusik und wurde Dirigent einer Kapelle, blieb die ganze Zeit in Petersburg und spielte ein paarmal beim Zaren. Meine Kapelle ging mit mir nach der Revolution ins Ausland. Ein paar fielen ab, ein paar Neue kamen dazu, in London machten wir einen Kontrakt mit einer Konzertagentur, und so ist mein Orchester entstanden.”

Alle lauschten immer noch, obwohl der Gast längst nichts mehr erzählte. Aber seine Worte schwebten noch im Zimmer, und an den und jenen schlugen sie erst jetzt. Kossak sprach den Jargon der Juden mangelhaft, er mischte halbe russische Sätze in seine Erzählung, und die Skowronneks und Mendel begriffen sie nicht einzeln, sondern erst im ganzen Zusammenhang. Die Schwiegersöhne Skowronneks, die als kleine Kinder nach Amerika gekommen waren, verstanden nur die Hälfte und ließen sich von ihren Frauen die Erzählung des Fremden ins Englische übersetzen. Der Reisende in Musikalien wiederholte daraufhin die Biographie Kossaks, um sie sich einzuprägen. Die Kerzen brannten nur noch als kurze Stümpfe in den Leuchtern, es wurde dunkel im Zimmer, die Enkel schliefen mit schiefen Köpfchen auf den Sesseln, aber niemand machte Anstalten zu gehen, ja, Frau Skowronnek holte sogar zwei ganze Kerzen, klebte sie auf die alten Stümpfe und eröffnete so den Abend von neuem. Ihr alter Respekt vor Mendel Singer erwachte. Dieser Gast, der ein großer Mann war, beim Zaren gespielt hatte, einen merkwürdigen Ring am kleinen Finger trug und eine Perle in der Krawatte, mit einem Anzug aus gutem europäischem Stoff bekleidet war — sie verstand sich darauf, denn ihr Vater war Tuchhändler gewesen —, dieser Gast konnte nicht mit Mendel in die Hinterstube des Ladens gehen. Ja, sie sagte zur Überraschung ihres Mannes: „Mister Singer! Es ist gut, daß Sie heute zu uns gekommen sind. Sonst”, und sie wandte sich an Kossak, „ist er so bescheiden und zartfühlend, daß er alle meine Einladungen ausschlägt. Er ist dennoch wie das älteste Kind in unserem Haus.” Skowronnek fiel ihr ins Wort: „Mach uns noch einen Tee!” Und während sie aufstand, sagte er zu Kossak: „Wir alle kennen Ihre Lieder schon lange, «Menuchims Lied» ist doch von Ihnen?” „Ja”, sagte Kossak. „Es ist von mir.” Es schien, daß ihm diese Frage nicht angenehm war. Er sah schnell auf Mendel Singer und fragte: „Ihre Frau ist tot?” Mendel nickte. „Und soviel ich weiß, haben Sie doch eine Tochter?” Statt Mendels erwiderte nun Skowronnek: „Sie ist leider durch den Tod der Mutter und des Bruders Sam verwirrt geworden und in der Anstalt.” Der Fremde ließ wieder den Kopf sinken. Mendel erhob sich und ging hinaus.

Er wollte nach Menuchim fragen, aber er hatte nicht den Mut dazu. Er kannte ja die Antwort schon im Voraus. Er selbst versetzte sich an die Stelle des Gastes und antwortete sich: Menuchim ist schon lange tot. Er ist jämmerlich umgekommen. Er prägte sich diesen Satz ein, schmeckte im Voraus seine ganze Bitterkeit, um dann, wenn er wirklich erklingen sollte, ruhig bleiben zu können. Und da er noch eine schüchterne Hoffnung tief in seinem Herzen keimen fühlte, versuchte er, sie zu töten. Wenn Menuchim am Leben wäre, sagte er sich, so hätte es mir der Fremde sofort am Anfang erzählt. Nein! Menuchim ist schon lange tot. Jetzt werde ich ihn fragen, damit diese dumme Hoffnung ein Ende nehme! Aber er fragte noch immer nicht. Er setzte sich eine Pause, und die geräuschvolle Tätigkeit der Frau Skowronnek, die in der Küche mit dem Teekocher hantierte, veranlaßte ihn, das Zimmer zu verlassen, um der Hausfrau zu helfen, wie er es gewohnt war.

Heute aber schickte sie ihn ins Zimmer zurück. Er besaß dreihundert Dollar und einen vornehmen Verwandten. „Es schickt sich nicht für Euch, Mister Mendel”, sagte sie. „Laßt Euren Gast nicht allein!” Sie war übrigens schon fertig. Mit den vollen Teegläsern auf dem breiten Tablett betrat sie das Zimmer, gefolgt von Mendel. Der Tee dampfte. Mendel war endlich entschlossen, nach Menuchim zu fragen. Auch Skowronnek fühlte, daß die Frage nicht mehr aufzuschieben war. Er fragte lieber selbst, Mendel, sein Freund, sollte zu dem Weh, das ihm die Antwort bereiten würde, nicht auch noch die Qual zu fragen auf sich nehmen müssen.

„Mein Freund Mendel hatte noch einen armen, kranken Sohn namens Menuchim. Was ist mit ihm geschehen?”

Wieder antwortete der Fremde nicht. Er stocherte mit dem Löffel auf dem Grunde des Glases herum, zerrieb den Zucker, und als wollte er aus dem Tee die Antwort ablesen, sah er auf das hellbraune Glas, und den Löffel immer noch zwischen Daumen und Zeigefinger, die schmale, braune Hand sachte bewegend, sagte er endlich, unerwartet laut, wie mit einem plötzlichen Entschluß:

„Menuchim lebt!”

Es klingt nicht wie eine Antwort, es klingt wie ein Ruf. Unmittelbar darauf bricht ein Lachen aus Mendel Singers Brust. Alle erschrecken und sehen starr auf den Alten. Mendel sitzt zurückgelehnt auf dem Sessel, schüttelt sich und lacht. Sein Rücken ist so gebeugt, daß er die Lehne nicht ganz berühren kann. Zwischen der Lehne und Mendels altem Nacken (weiße Härchen kräuseln sich über dem schäbigen Kragen des Rocks) ist ein weiter Abstand. Mendels langer Bart bewegt sich heftig, flattert beinahe wie eine weiße Fahne und scheint ebenfalls zu lachen. Aus Mendels Brust dröhnt und kichert es abwechselnd. Alle erschrecken, Skowronnek erhebt sich etwas schwerfällig aus den schwellenden Kissen und behindert durch den langen, weißen Kittel, geht um den ganzen Tisch, tritt

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